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Über Lehren und Lernen

Magda Gerber: Über Lehren und Lernen
Magda Gerber

Über Lehren und Lernen

„Ein Kleinkind lernt immer. Ich glaube, dass Babys nichts beigebracht werden sollte, weil dies gewöhnlich das Lernen behindert.“ 
Magda Gerber

Je weniger wir in den natürlichen Prozess des Lernens eingreifen, umso mehr können wir beobachten, wie viel Kinder die ganze Zeit von sich aus lernen. Kleinkinder lernen ständig, indem sie aufnehmen, herausfinden, entdecken, integrieren und die wirkliche Welt um sich herum organisieren.

Wissen, das auf diese Weise gewonnen wird, wird ihnen in ihrem täglichen Leben am besten dienen. Wenn Menschen nur dem Plan der Natur vertrauen würden, nach dem sich Babys entwickeln, dann könnten sie sich entspannen und sich an all den täglichen Wundern ihrer natürlichen Entwicklung erfreuen.

Was sollte man lehren? Warum?

Eltern sind die ersten und die wichtigsten Lehrer ihrer Kinder. Ich weiß auch, wie sehr Eltern durch Bücher, Zeitungsartikel, das Fernsehen oder durch andere Eltern unter Druck geraten, etwas zu tun, um Lernen bei ihren Kindern zu stimulieren. Wir sind der Überzeugung, dass Kinder immer tun, was sie tun können, was sie tun wollen, was es sie von innen her drängt zu tun. Wie können Erwachsene es wagen zu glauben, sie wüssten, was ein Kind in einem bestimmten Augenblick zu lernen bereit ist?

Die meisten Menschen wollen Kleinkindern beibringen, was sie sowieso wissen oder lernen würden. Lernen durchschnittliche, normale Kinder in einer durchschnittlichen Umgebung, die „gut genug“ ist, nicht etwas über Farben, über Formen, über Ein und Aus? Warum sollte man es ihnen beibringen, wenn sie diese Dinge ebenso gut in einer alltäglichen Umgebung mit aufmerksamen Eltern lernen? Jean Piaget hat es schön ausgedrückt: „Wenn Sie einem Kind etwas beibringen, dann nehmen Sie ihm für immer die Chance, es selbst zu entdecken.“ Wann immer Sie ein Kind davon abhalten zu tun, was es von Natur aus tun könnte und würde, dann sagen Sie dem Kind meiner Ansicht nach: „Ich weiß, was gut für dich ist.“ Aber tatsächlich wissen Sie – die oder der Erwachsene – es nicht.

Lernen, was wirklich wichtig ist

Zum Beispiel gehen die meisten Kinder (nicht alle), wenn sie zum ersten Mal eine Treppe hinunterwollen, mit dem Kopf voran – sie möchten sehen, wo es hingeht. Manche Leute sagen, es sei für Kinder sicherer, eine Treppe rückwärts hinunterzukrabbeln, und sie bringen Kindern bei, wie man das macht. Das Kind kann dann verwirrt werden, weil sein Körper ihm das eine sagt und die*der Erwachsene etwas anderes, und vielleicht führt das dann sogar tatsächlich dazu, dass es fällt. Wenn sich ein Baby auf natürliche Weise bewegt und das tut, was sich für seinen Körper im Moment richtig anfühlt, ist das immer das Sicherste.

Wenn Sie einem Kind etwas beibringen, für das es nicht bereit ist, dann kann es das Gefühl bekommen: „Ich weiß nicht genau, was von mir erwartet wird, aber was ich auch mache, es wird nicht geschätzt.“ Ich frage mich, ob Eltern klar ist, dass die Zeit, die darauf verwendet wird, ihrem Kind etwas beizubringen, ihm Zeit dafür wegnehmen kann, zu lernen, was wirklich wichtig ist.

Freie Bewegung, freies Spielen

Wir lehren Kinder nicht, wie sie sich bewegen sollen, weil wir glauben, dass jedes Baby dies viel besser weiß. Wir greifen nicht in ihr Spiel ein. Wir mischen uns nicht dabei ein, wenn sie etwas von dem verfügbaren Material auswählen. Das sind Bereiche, von denen ich ganz entschieden sage: „Hände weg!“

Wir sind immer daran interessiert zu wissen: „Wofür würde dieses Kind sich jetzt entscheiden, wenn man ihm nicht etwas anderes beigebracht hätte?“ Kleine Kinder sind Forscher und Initiatoren. Sie lernen trotzdem, was wir ihnen beibringen. Eine sichere Umgebung, in der das Baby sich bewegen und forschen kann, ermöglicht die Art Lernerfahrung, von der das Kind am meisten profitiert. Wenn Kleinkinder genug Raum – sicheren Raum – haben, dann werden sie genau die Bewegungen machen, für die sie bereit sind – weil sie die Gelegenheit dazu haben. Wenn wir Kleinkinder beobachten, dann sieht es eher so aus, als arbeiteten sie, als dass sie spielten: Sie sind ganz bei der Sache, absorbiert von dem, was sie gerade tun.

Wir brauchen keine Übungen für sie zu erfinden. Sie lernen, ihren Instinkten zu folgen und ihrem eigenen Urteil zu vertrauen. Kinder erlangen ihre Fertigkeiten durch endloses Wiederholen, dadurch dass sie dieselbe Aktivität immer wieder machen, wenn Erwachsene vielleicht schon längst das Interesse verloren haben. Wenn ein Kind eine Handlung viele, viele Male wiederholt, dann spürt es keine Langeweile. Vielmehr lernt es gründlich, was mit der Handlung zu tun hat, macht sie zu einem Teil von sich und seiner Welt. Wenn es etwas bis zu seiner eigenen Befriedigung gelernt hat, dann geht es zu einer anderen neuen Aktivität über.

Beim Spielen arbeiten Kinder ihre Konflikte mit Objekten, anderen Kindern und Erwachsenen durch. Spiel ist ein Ventil für Neugier, bringt Informationen über die physische Welt und stellt eine sichere Möglichkeit dar, mit Angst und sozialen Beziehungen umzugehen. Auf lange Sicht dient Spielen den inneren Bedürfnissen, Hoffnungen und Wünschen von Kindern.

Über das tägliche Leben lernen

Was sollten Kinder wirklich von ihren Eltern lernen? Wenn Eltern dem Kind erzählen, was sie tun, dann lernt das Baby etwas über die reale Welt um sich herum. Babys müssen die wichtigsten Dinge in ihrem Leben lernen – wer sie sind, wie man kommuniziert, was Mama oder Papa freut oder sie aufregt. Lehren ist keine abgetrennte Funktion. Es ist eine Erfahrung des alltäglichen Lebens. Das Beste, was man ein kleines Baby lehren kann, ist etwas über das tägliche Leben.

  • Über seine Bedürfnisse: „Du hast wohl Durst. Möchtest du dies trinken?“
  • Über das, was ihm gehört: „Ziehen wir mal dein Hemd an. Bist du soweit, dass du deinen Arm in den Ärmel stecken kannst?“
  • Über Ihre Sorge: „Die Straße ist nicht sicher. Ich kann dich nicht hinter deinem Ball herlaufen lassen.“

Was Eltern lehren, sind sie selbst, als Modelle dessen, was menschlich ist – durch ihre Stimmungen, ihre Reaktionen, ihren Gesichtsausdruck und ihre Handlungen. Das sind die wirklichen Dinge, derer Eltern sich bewusst sein müssen, und dessen, wie sie auf ihre Kinder wirken. Erlauben Sie ihnen, Sie zu kennen, dann wird es für sie vielleicht leichter, etwas über sich selbst zu lernen.

Für sich sein: ein Raum für Ihr Baby

Jedes Kind braucht eine absolut sichere Umgebung, eine Umgebung, in der es sich frei bewegen kann, wenn sich seine motorischen Fähigkeiten entwickeln. Eine sichere Umgebung erlaubt nicht nur dem Kind, Zeit mit Erforschen und Lernen zu verbringen, ohne unterbrochen zu werden, sondern auch den Eltern, eine Zeit lang ihre eigenen Vorhaben zu verfolgen. Wenn das Kind wieder Aufmerksamkeit braucht, können Kind und Eltern ihr Miteinander wieder ganz und ohne Ablenkung genießen.

Unter einer sicheren Umgebung verstehe ich Folgendes: Wenn die Person, die für das Kind verantwortlich ist, eines Tages zufällig bis zum Abend aus dem Haus oder der Wohnung ausgeschlossen sein sollte, würde das Kind in einer sicheren Umgebung überleben. Das Kind wäre vielleicht verstört, müde, hungrig und würde weinen – aber es wäre physisch sicher.

Eine ruhige Umgebung

Häufig werden kleine Kinder zu viel Stimulation ausgesetzt. Erwachsene erkennen oft nicht die Bedürfnisse eines Kindes nach Ruhe und Stille. Häufig ist der angemessene Raum für Ihr Baby sein eigener Raum oder sein eigenes Zimmer. Es sollte in Hörweite der Eltern sein, aber etwas abseits von zu viel Aktivität, die der Haushalt mit sich bringt. Manche Expert*innen sagen, um Ihrem Baby Sicherheit zu geben, sollten Sie es überall hin mitnehmen.

Wir glauben, dass Babys nicht nur daher Sicherheit bekommen, dass sie in der Nähe ihrer Eltern sind, sondern auch daher, dass ihnen die Möglichkeit gegeben wird, ihre Umgebung frei und selbstständig zu erforschen. Sie müssen immer mal wieder vorbeischauen und natürlich erreichbar sein, wenn das Baby gefüttert, gewickelt oder gebadet werden muss oder wenn es Sie braucht.

Verbringen Sie auf jeden Fall auch Zeit mit Ihrem Baby, wenn es Ihnen einfach Freude macht, sich ihm in Ruhe zuzuwenden und ihm einfach nur zuzuschauen.

Vom Kinderbettchen zum Laufstall und zum Fußboden

Am Anfang reicht ein Kinderbettchen oder eine Wiege, und ein Laufstall ist ganz passend, bis das Baby anfängt, sich auf den Bauch zu drehen und sich mit Rollen fortzubewegen. In den ersten Monaten können sie sich nicht weit von dort wegbewegen, wo wir sie hinlegen – deshalb fühlen sie sich von diesen kleinen Räumen nicht eingeengt. Im Gegenteil, es ist ihr vertrauter Platz, an dem sie ihre vertrauten Dinge haben. Grenzen geben Ihrem Baby ein Gefühl von Sicherheit. Wenn Sie ein zweites Bettchen und einen Laufstall für draußen haben, kann ein Baby auch draußen viele Stunden an einem sicheren Ort schlummern und spielen, ohne dass Sie jede Minute aufpassen müssen.

Ungefähr mit 5 oder 6 Monaten, wenn Ihr Baby mobiler wird, kann es mehr und mehr Zeit in einem weiteren sicheren Raum auf dem Fußboden verbringen. Wenn es ein paar einfache Dinge in seiner Reichweite hat, kann es mit ihnen hantieren und spielen. Ein paar Dinge gerade außerhalb seiner Reichweite können es dazu ermutigen, sich auf sie zuzubewegen.

Erste „Spielsachen“

In den ersten zwei Monaten gehören seine eigenen Hände und das Gesicht der Eltern zu den wertvollsten Dingen, mit denen das Baby spielen kann. Als erstes „Spielzeug“ empfehle ich ein Tuch von etwa 40 mal 40 Zentimetern, aus kräftiger, farbiger Baumwolle, so wie Emmi Pikler es in ihrem Heim in Lóczy benutzte. (Seide oder Nylon sind gefährlich, ebenso wie ein zu kleines Tuch.)

Halten Sie das Tuch zwischen das Baby und sich selbst, und zwar so, dass Sie dahinter hervorschauen können. Das ist dann ein interessantes visuelles Ziel. Der Grund, warum ich ein Tuch Mobiles vorziehe, ist der, dass das Kind, wenn es soweit ist, diesen Gegenstand greifen und auf vielfältige Weise damit hantieren kann, und dabei immer neue visuelle Erfahrungen machen und neue Gefühle erleben kann: Es kann sich das Tuch erst vor, dann auf sein Gesicht ziehen. Es kann daran kauen, es kann auf ihm liegen, und dann die Erfahrung machen, dass es das Tuch nicht unter dem eigenen Körper hervorziehen kann; und später kann es das Tuch mit einem anderen Kind hin- und herziehen.

Sichere Grenzen

Bevor Ihr Kind anfängt, sich auf den Bauch zu drehen und zu krabbeln, ist es günstig, einen Raum mit einem kleinen Türgitter kindersicher zu machen, damit es nicht auf unsicheres Territorium gelangen kann. (Wenn ein ganzer Raum nicht zu Verfügung steht, kann man auch einen Teil eines Raumes sicher abgrenzen.) Eltern reagieren oft negativ, wenn ich ihnen vorschlage, in ihrem Haus oder ihrer Wohnung so ein kleines Tor zu benutzen, um sichere Grenzen für ihre Kinder zu schaffen.

Im Gegensatz zu dem, was viele Menschen glauben, ist ein mit einem kleinen Türgitter abgeteilter Raum, ein sicherer Raum, der Kindern die Freiheit gibt, sich in sicherer und vertrauter Umgebung zu bewegen und sie zu erforschen. Wenn das Tor von Anfang an ein Teil der Umgebung Ihres Babys ist, dann wird es dieses ganz natürlich annehmen, genauso wie andere vertraute Gegenstände in seiner Umgebung. Wenn Sie es andererseits erst einbauen, nachdem Ihr Baby schon aus seinem Zimmer gekrabbelt ist, dann wird es dies mit Recht als einschränkenden Eingriff erleben, der es daran hindert, zu tun, was es will.

Meiner Meinung nach ist es viel besser, einen wirklich sicheren Platz mit einem kleinen Tor einzurichten, der ihn vom Rest des Hauses abtrennt, als ein Kind „sicher“ zu verwahren, indem man es in einer Schaukel, einem Kindersitz oder etwas Ähnlichem anbindet oder ständig hinter ihm herläuft, um es vor Gefahren im Haushalt zu bewahren.

Zeit miteinander, Zeit allein

Wenn Erwachsene versuchen, ihre Arbeit zu machen, während sie gleichzeitig auf ihre Kinder aufpassen, dann fühlen sie sich ebenso frustriert wie die Kinder. Ich habe das Gefühl, dass die Ursache dieser Falle in Büchern und Ratgebern zu suchen ist, die befürworten, dass ein Baby seine Eltern ständig in seiner Nähe haben muss.

Aufgrund dieser Überzeugung nehmen viele Eltern ihr Kind überall hin mit, setzen es auf den Küchentisch, auf den Boden im Badezimmer und an andere unsichere Plätze. Ein Baby, das in einem Kindersitz angeschnallt ist, wird in seinen Bewegungen eingeschränkt und hat weniger Freiheit als ein Kind, das hinter einem sicheren Tor aktiv seinen eigenen vertrauten Lebensraum erforscht. Kinder lernen am besten durch aktives Beteiligtsein – 
an ihrer Umwelt wie im Umgang mit anderen Menschen. Wenn ein Kind einen angenehmen Platz zum Spielen hat, wo es sich selbstständig bewegen und seine Umgebung erforschen kann, dann haben auch die Eltern mehr Freiraum dafür, ihre eigene Arbeit zu machen, und ihre Bedürfnisse wie die ihres Kindes können befriedigt werden.

Viele Eltern haben Angst, dass sie vielleicht keine „guten Eltern“ sind, wenn sie nicht immer mit ihrem Kind zusammen sind. Ich verstehe immer noch nicht ganz, warum es für Eltern so schwer ist zu akzeptieren, dass es ganz in Ordnung ist, ein Kind in einem solchen vollkommen sicheren Raum zu lassen, wenn sie erreichbar sind, aber dabei in Hörweite etwas anderes tun. Ein Baby kann lernen, eine gewisse Zeit allein zu verbringen. Es ist für ein Kind wichtig, dass es Befriedigung und Freude an seiner eigenen Unabhängigkeit entdeckt.

Kinder, die gelernt haben, sich darauf zu verlassen, von Erwachsenen stimuliert, manipuliert und unterhalten zu werden, können ihre Fähigkeit verlieren, sich auf unabhängige, erforschende Aktivitäten ganz einzulassen. Kinder brauchen nicht ständig Aufmerksamkeit, was sie brauchen, ist Sicherheit. Wenn ein Kind von Zimmer zu Zimmer geschleppt wird, während die Mutter arbeitet, hilft ihm dies sicher nicht, ein Gefühl von Sicherheit zu bekommen. Die Lebensweise eines Erwachsenen ist eine andere als die eines Kindes. Eltern wie Kinder brauchen Zeit für sich selbst. Wenn sie auch für sich sein können, dann wird die Zeit, die sie gemeinsam verbringen, umso reicher.

 

Dieser Text ist erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Juli 2023 

 

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Bewegungsentwicklung in den ersten Monaten

Ganz kleine Babys fühlen sich wohler und können sich freier bewegen, wenn man sie auf den Rücken legt statt auf den Bauch. Wir können darauf vertrauen, dass es sich selbst umdreht, sobald es bereit dazu ist. Bis dahin haben wir die Möglichkeit die kleinen Fortschritte unseres Babys zu verfolgen und uns an ihnen zu erfreuen.

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