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Gemeinsam über sich hinauswachsen

Ein Interview mit Daniel Hunziker: Gemeinsam über sich hinauswachsen
von Peter Schipek

Gemeinsam über sich hinauswachsen

Ein Interview mit Daniel Hunziker

Peter:

Als Lehrer, Schulleiter und Bildungsvisionär bist du seit mehr als dreißig Jahren im Schulbereich tätig und hast ein Buch über kompetenzorientiertes Lernen geschrieben. Wie kommt es, dass dein zweites Buch – zumindest auf den ersten Blick – so gar nichts mit Schule zu tun hat?

Daniel:

In all den Jahren, in denen ich Schulen aus nächster Nähe gesehen und mit Kindern, Jugendlichen, Lehrpersonen und Eltern gearbeitet hatte, ist mir aufgefallen, wie schwer sich Menschen damit tun, umzusetzen, was sie wissen, zu tun, was sie für richtig halten, und an der Verwirklichung scheitern, eine kindgerechte Schule aufzubauen, an der die Lernenden ihre Freude am Lernen nicht verlieren.

Aus irgendeinem Grund scheint ihnen die Tatkraft und der Mut zu fehlen, für ihre Überzeugungen einzutreten, und vor allem sind all die Gruppierungen mit ihren so unterschiedlichen Ideologien selten in der Lage, einander auf eine Art und Weise zuzuhören, dass sie einander besser verstehen könnten. Diese Erfahrungen haben mich immer mehr dafür interessiert, was es denn ist, dass Menschen mutlos und passiv werden lässt und weshalb es so schwierig ist, anderen zuzuhören, um sie besser zu verstehen und gemeinsam mit ihnen etwas Neues auf die Beine zu stellen.

Peter:

Du glaubst also, dass das, was du in Schulen erfahren hast, auch auf andere Bereiche der Gesellschaft übertragbar ist?

Daniel:

Ja, immer wenn Menschen miteinander etwas zustande bringen wollen, können sie das besser zusammen mit anderen Menschen tun, weil Viele mehr Ideen mitbringen als Einzelne. Wichtig ist natürlich, dass Menschen einer Gruppe unterschiedlich sind. Denn wenn alle genau gleich denken wie ich, brauche ich die Anderen nicht, weil ich selbst ja schon alles in mir habe, was bereichernd sein könnte. Die Andersartigkeit der Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, ist also das Potenzial für die Gruppe und für die gemeinsame Vision. Darum auch der Buchtitel „Gemeinsam über sich hinauswachsen“ – und nicht alleine. Das Entfalten dieses Potenzials geschieht jedoch nicht automatisch.
Die Qualität, wie die Menschen einander zuhören können, ist maßgebend, inwiefern Unterschiede zu einer Bereicherung werden können. Die Frage ist: Hören sie einander zu, um einander besser entgegnen zu können, oder hören sie einander zu, um sich besser zu verstehen?

Um zu deiner Frage zurückzukehren: Diese Tatsachen sind aus meiner Sicht universell auf alle Gemeinschaften übertragbar, bei denen Menschen miteinander etwas zustande bringen wollen: Paare, Familien, Schulen, Vereine, NGOs, Interessengemeinschaften und Firmen. Ausgenommen sind vielleicht politische Parteien, denn die müssen ja, wie ihr Name schon sagt, parteiisch sein.

Peter:

Der Untertitel deines Buches lautet „Präsenz, Verbundenheit und Co-Kreativität in Gemeinschaften“. Kannst du etwas über die Wahl und die Bedeutung dieser drei Begriffe sagen?

Daniel:

Als soziales Wesen wünscht sich jeder Mensch, in Gemeinschaften aufgehoben und mit anderen Menschen verbunden zu sein. Gleichzeitig streben wir aber auch nach Autonomie und persönlicher Entwicklung. Es drängt sich also auf, dass wir die Erfüllung beider Bedürfnisse in gemeinsamen Visionen mit anderen Menschen verwirklichen wollen und dort auch unsere individuellen Wachstumsbedürfnisse stillen möchten. Wie erwähnt, gelingt dies am besten auf co-kreative Art und Weise mit anderen Menschen, indem sich alle mit ihren Ideen einbringen und gleichzeitig in der Lage sind, einander emphatisch zuzuhören. Dann kann Unterschiedlichkeit zu einer Bereicherung und Verbundenheit führen, nicht statt zu Konkurrenz und Entfremdung. Gelingt dies jedoch nicht wirklich gut, hat dies meistens damit zu tun, dass die Beschaffenheit der einzelnen Persönlichkeiten nach Aufmerksamkeit verlangt. Was es dafür braucht ist Präsenz – Präsenz in Begegnungen – für einen selbst und für sein Gegenüber.

Peter:

Du sprichst von Begegnungen. Das hört sich so flüchtig und unbedeutend an. Sprechen wir da nicht besser von Beziehungen?

Daniel:

Ich verstehe, was du meinst. Beziehung ist für mich jedoch schwer fassbar und unkonkret.
Da ist die Rede von Paarbeziehung, Eltern-Kind-Beziehung, der Beziehung zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern. Stattfinden und gestaltet werden diese Beziehungen jedoch in unzähligen Momenten von einzelnen Begegnungen. Diese sind wiederum sehr konkret. Sie finden immer in einem jeweiligen Moment statt, und für diese Momente kann man Präsenz entwickeln, um zu merken, was genau geschieht, wie der nonverbale Ausdruck ist, wie die Fähigkeit zweier Menschen ist, einander wirklich zuzuhören, wie aufrichtig sie wirklich sagen, was sie denken und fühlen, und was das wiederum beim Gegenüber auslöst. Mit dem Fokus auf den Moment einer Begegnung werden Beziehungen fass- und gestaltbar.

Peter:

Würde das nicht bedeuten, dass Menschen zuerst an ihrer Präsenz und Persönlichkeit arbeiten müssten und damit ihre Bewegungsfähigkeit entwickeln könnten, was sie dann dazu befähigen würde, mit anderen Menschen co-kreativ tätig zu sein?

Daniel:

Das könnte ein Weg sein. Jedoch glaube ich, dass jeder Ausgangspunkt (Präsenz für sich selbst, Begegnungen mit Menschen, gemeinsame Projekte) passend ist. Es gibt Menschen, die sich selbst entwickeln wollen und bereit sind, mit viel Ehrlichkeit und Engagement an sich zu arbeiten. Für diejenigen ist deine Reihenfolge bestimmt die richtige.

Ich glaube aber, dass es auch Menschen gibt, für die die aktuellen Beziehungen in ihrem Lebensalltag besonders bedeutsam sind. Auch dort kann ein guter Ausgangspunkt sein, wenn sie merken, dass sie in Begegnungen immer wieder an denselben Mechanismen scheitern und sich dann ihrer eigenen Persönlichkeitsentwicklung zuwenden. Wiederum wird es Menschen geben, die begeistert von einem Projekt sind und es zusammen mit anderen Menschen umsetzen möchten. Wenn sie dann merken, dass das Projekt nicht wirklich gut vom Fleck kommt, weil Streitereien und Rechthabereien das Vorankommen bremsen, dann werden sie eher bereit sein, auch ihr Begegnungsverhalten anzuschauen und sich dort weiterzuentwickeln.

Peter:

Dein Buch sehe ich als Mischung zwischen Sachbuch, Lebensberatung und Entwicklungsbegleiter für Einzelne und für Gruppenprozesse. Für wen hast du das Buch geschrieben?

Daniel:

Mein größter Wunsch ist es, dass es Menschen gelingt, gemeinsam mit anderen leidenschaftlich ihre Visionen zu erschaffen und in die Welt zu bringen. Ich glaube, dass diese Interessengruppe am meisten von meinem Buch profitieren kann. Weil ich weiß, dass dies nur gelingen kann, wenn Begegnungen bereichernd gestaltet werden und dafür ein hohes Maß an Präsenz erforderlich ist, ist das Buch natürlich auch für Menschen interessant, denen Dialog- und Empathiefähigkeit, aber auch Präsenz-, Bewusstseins- und Persönlichkeitsentwicklung am Herzen liegen.

Peter:

Zu deinem Buch hast du ja gemeinsam mit Gerald Hüther die Initiative beziehungsweise.org gegründet. Was geschieht dort?

Daniel:

Mir liegt am Herzen, dass das, was ich in meinem Buch schreibe, auch ins Leben kommt – das heißt, dass Menschen ihre Visionen und Ideen verwirklichen können, dass Menschen, die sich nach erfüllenden und bereichernden Begegnungen sehnen, das auch lernen und erleben können, und dass Menschen, die ihr Leben präsenter leben möchten, dazu Inspirationen finden. Die Beziehungsweise-Community führt Menschen zusammen, welche diese Wünsche ebenfalls haben. Ich versuche, Menschen zu helfen, ihre Ideen in sogenannten Co-Labs (co-kreative Arbeitslaboratorien) bekannt zu machen und Menschen zu finden, die von ihrer Idee begeistert sind. Ebenfalls finden immer wieder Veranstaltungen statt, um an der eigenen Präsenz- und Begegnungsfähigkeit zu arbeiten.

Peter:

Wie sieht es bei dir persönlich aus? Was von dem, das du in deinem Buch thematisierst, spielt auch in deinem Leben eine Rolle?

Daniel:

Natürlich mag ich auch selbst mit anderen Menschen Ideen ins Leben bringen.

So bin ich dabei, ein Projekt aufzugleisen, bei dem es darum geht, unser Leben, Lernen und Arbeiten wieder mehr in Einklang mit der natürlichen Ordnung zu bringen. Da ist mittlerweile ja so einiges in Unordnung geraten. Bis zur Öffentlichmachung braucht es aber noch etwas Zeit. Ein weiteres Projekt, das mir am Herzen liegt, ist der dritte Berufsbildungsweg. Dort geht es uns darum, jungen Menschen eine Alternative zu ermöglichen, bei der nicht das Erreichen von vorgegebenen Qualifikationen ihr Leben bestimmt, sondern ihre Leidenschaften und Potenziale. Dazu gibt es bereits ein Co-Lab auf der Beziehungsweise-Website und einen Kick-Off-Termin im Dezember.

Je länger ich schon darauf achte, in Begegnungen meinem Gegenüber zuzuhören, um sie besser verstehen zu können, umso mehr haben sich meine Sinne dafür auch geschärft. So glaube ich, gelingt mir das schon recht gut. Und um in meinem Leben immer wieder präsent zu sein, praktiziere ich regelmäßig eine Übung, die auch in meinem Buch steht.

Die Übung besteht aus zwei Fragen: 1. Wo bin ich? Und was ist da? Die erste Frage lässt mich immer sofort an den Ort kommen, wo ich gerade bin. Gedanken nachzuhängen oder mich mit Befürchtungen zu beschäftigen – das geht nicht gleichzeitig. 2. Die zweite Frage bringt mich in meine Sinne: Was sehe ich, was höre, rieche, schmecke, spüre ich? Diese Übung ist simpel, jederzeit und überall machbar und hilft mir selbst, wach und anwesend zu sein.

 

Daniel Hunziker ist Autor mehrerer Bücher zum achtsamen Begleiten von Kindern. Er war 30 Jahre als Lehrer, Schulleiter und Bildungsinnovator tätig. Heute erforscht er, was Menschen antreibt, miteinander verbindet, auseinandertreibt und was zum Gelingen erfüllender Begegnungen und co-kreativer Prozesse führt.

 

Dieser Text ist erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Oktober 2023 

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