Direkt zum Inhalt

„Das ist nicht fair! Ihr seid so gemein!“

„Das ist nicht fair! Ihr seid so gemein!“
Alfie Kohn

„Das ist nicht fair! Ihr seid so gemein!“

Warum Bestrafung versagt

Dass es nicht funktioniert, Kinder zu bestrafen, ist angesichts der vorhandenen Forschungsergebnisse kaum zu leugnen. Schwieriger ist es, mit Sicherheit zu sagen, warum Bestrafung nicht funktioniert. Dennoch können wir einige Vermutungen wagen.

Bestrafung macht Menschen wütend

Wie bei anderen Formen von Kontrolle macht das Zurückgreifen auf strafende Konsequenzen oft den Empfänger der Strafe wütend, und diese Erfahrung ist für ihn doppelt schmerzlich, weil ihm die Macht fehlt, etwas daran zu ändern. Was die Geschichte uns im Hinblick auf Nationen lehrt, spiegelt wider, was die Psychologie uns im Hinblick auf Individuen lehrt: Wenn sie eine Gelegenheit dazu haben, werden diejenigen, die sich als Opfer fühlen, möglicherweise selbst zu Tätern.


Bestrafung ist ein Vorbild für den Gebrauch von Macht

Körperliche Bestrafung dient Kindern als Beispiel für Gewalt – das heißt für die Anwendung von Gewalt, um Probleme zu lösen. Im Grunde wird durch jede Bestrafung etwas Ähnliches gelernt. Die Lektion, die wir im Sinn hatten, als wir die Kinder bestraften („Tu x nicht noch einmal“), lernen Kinder vielleicht und vielleicht auch nicht. Doch ganz gewiss lernen sie, dass die wichtigsten Menschen in ihrem Leben, ihre Vorbilder, Probleme zu lösen versuchen, indem sie Macht anwenden, um den anderen unglücklich zu machen, damit er gezwungen ist zu kapitulieren. Strafen machen ein Kind nicht nur wütend; gleichzeitig „bieten sie ihm ein Vorbild, seine Feindseligkeit nach außen hin auszudrücken“, wie ein Forscher bemerkt. Mit anderen Worten, sie lehren es, dass Macht vor Recht geht.


Bestrafung verliert mit der Zeit ihre Wirksamkeit

Wenn Kinder älter werden, wird es immer schwieriger, etwas ausreichend Unangenehmes, das man ihnen zufügen kann, zu finden. (Ebenso wird es zunehmend schwerer, ausreichend attraktive Belohnungen zu finden.) Irgendwann fangen Ihre Drohungen an, hohl zu klingen, und Ihre Kinder tun „du hast Hausarrest!“ oder „diese Woche gibt’s kein Taschengeld für dich!“ achselzuckend ab. Das beweist weder, dass Kinder hart im Nehmen oder stur sind, noch bedeutet es, dass Sie Hilfe brauchen, sich diabolischere Möglichkeiten auszudenken, wie Sie Ihren Kindern Leid zufügen können. Vielmehr deutet es darauf hin, dass der Versuch, Kindern zu helfen, gute Menschen zu werden, indem man sie für schlechte Dinge bestraft, vielleicht von Anfang an eine törichte Strategie war.


Sehen Sie es einmal so: Wenn sich kleine Kinder fragen, warum sie nett sein oder bestimmten Versuchungen widerstehen sollten, haben Eltern die Wahl. Sie können sich auf den Respekt und das Vertrauen stützen, das sie durch die bedingungslose Liebe zu ihren Kindern aufgebaut haben, und ihnen mit Hilfe von Vernunft und Überzeugungskraft erklären, welche Auswirkungen es auf andere Menschen hat, wenn sie dies statt jenes tun. Oder sie können einfach auf nackte Macht zurückgreifen: „Wenn du das nicht sein lässt, wirst du bestraft.“


Das Problem bei der zweiten Herangehensweise ist, dass Sie, wenn Ihre Macht zu schwinden beginnt – und das wird passieren –, nichts mehr übrig haben. Wie Thomas Gordon bemerkt hat: „Die unvermeidliche Folge des ständigen Einsatzes von Macht, um seine Kinder zu kontrollieren, wenn sie klein sind, ist, dass man nie lernt, Einfluss auszuüben.“ Je mehr man auf Strafen zurückgreift, „umso weniger echten Einfluss werden Sie daher auf ihr Leben haben“.


Bestrafung untergräbt die Beziehung zu unseren Kindern

Wenn wir strafen, machen wir es unseren Kindern sehr schwer, uns als liebevolle Verbündete anzusehen, was für eine gesunde Entwicklung unabdingbar ist. Stattdessen werden wir (in ihren Augen) zu Vollstreckern, denen man aus dem Weg gehen sollte. Noch sehr junge Kinder beginnen zu begreifen, dass ihre Eltern, diese gewaltigen, allmächtigen Menschen, von denen sie völlig abhängig sind, sie bisweilen mit Absicht unglücklich machen: Diese Riesen, die mich halten und schaukeln, mich füttern und mir die Tränen mit Küssen trocknen, geben sich manchmal große Mühe, mir Dinge, die ich mag, wegzunehmen, oder bringen mich dazu, mich wertlos zu fühlen, oder hauen mich auf den Hintern (obwohl sie mir ständig sagen, ich soll mich vernünftig ausdrücken).

Sie sagen mir, sie verhalten sich so, weil ich irgendwas getan hätte, aber ich weiß nur, dass ich nicht mehr sicher bin, ob ich ihnen vertrauen oder mich bei ihnen ganz sicher fühlen kann. Es wäre ziemlich dumm von mir, wenn ich ihnen gegenüber zugeben würde, dass ich wütend bin oder dass ich irgendwas Schlechtes getan habe, denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass sie dann vielleicht eine Auszeit verhängen, in einer ganz lieblosen Stimme mit mir reden oder mich sogar hauen. Daher halte ich lieber Abstand zu ihnen.


Bestrafung lenkt Kinder von den wichtigen Dingen ab

Stellen Sie sich vor, einem Kind wird gesagt, es muss in sein Zimmer gehen und sein Lieblingsprogramm im Fernsehen verpassen, weil es seinen Bruder gerade gehauen hat. Werfen wir kurz einen Blick zu ihm hinein, wie es da auf seinem Bett sitzt. Was meinen Sie, was ihm durch den Kopf geht? Wenn Sie vermuten, dass es über sein Verhalten nachdenkt, vielleicht sogar nachdenklich zu sich selbst sagt: „Weißt du, jetzt sehe ich ein, dass es falsch ist, anderen wehzutun“ – dann schicken Sie Ihre Kinder unbedingt weiterhin in ihr Zimmer, wenn sie sich daneben benehmen.


Falls Sie jedoch – wie jeder, der schon einmal einige Zeit mit einem echten Kind verbracht hat (oder selbst eins gewesen ist) – dieses Szenario lächerlich unwahrscheinlich finden, warum sollten Sie dann überhaupt diese – oder irgendeine andere – Strafe verhängen? Der Gedanke, Auszeiten seien eine akzeptable Form der Disziplinierung, weil sie Kindern Zeit gäben, über Dinge nachzudenken, beruht auf einer absurd unrealistischen Grundannahme. Strafen bringen Kinder nicht dazu, den Blick darauf zu richten, was sie getan haben, und schon gar nicht darauf, warum sie es getan haben oder was sie stattdessen hätten tun sollen. Vielmehr führt eine Strafe dazu, dass sie darüber nachdenken, wie gemein ihre Eltern sind und vielleicht auch wie sie sich rächen können (an dem Kind, das ihnen den Ärger eingebrockt hat).


Vor allem werden sie über die Strafe selbst nachdenken: wie ungerecht sie ist und wie sie ihr beim nächsten Mal entgehen können. Kinder zu bestrafen – mit der Drohung, wieder dasselbe zu tun, wenn sie in Zukunft Missfallen erregen – ist eine ausgezeichnete Methode, um ihre Fähigkeit zu perfektionieren, einer Entdeckung zu entgehen. Wenn Sie zu einem Kind sagen: „Ich will nicht noch einmal sehen, dass du so was machst“, denkt das Kind: „In Ordnung. Beim nächsten Mal siehst du mich nicht dabei.“ Auch dient es als starker Anreiz zum Lügen. (Kinder, die nicht bestraft werden, haben dagegen weniger Angst, zuzugeben, was sie getan haben.) Jedoch reagieren strafende Eltern auf die vorhersehbare Unehrlichkeit, die mit traditioneller Erziehung einhergeht – „Ich war das nicht! Es war schon kaputt!“ –, meist nicht, indem sie ihre Verwendung von Strafen in Frage stellen, sondern indem sie das Kind erneut bestrafen, diesmal weil es gelogen hat.


Bestrafung macht Kinder egozentrischer

Mit dem Wort Konsequenzen wird viel um sich geworfen, nicht nur als Euphemismus für Bestrafung, sondern auch als Rechtfertigung dafür – wenn etwa behauptet wird: „Kinder müssen lernen, dass ihr Verhalten Konsequenzen hat.“ Aber Konsequenzen für wen? Die Antwort, die jede Bestrafung gibt, lautet: für sie selbst. Die Aufmerksamkeit eines Kindes wird ganz darauf ausgerichtet, welche Folgen es für es selbst haben wird, wenn es eine Regel verletzt oder sich gegen einen Erwachsenen auflehnt – das heißt, mit welchen Konsequenzen das Kind rechnen muss, wenn es erwischt wird.


Wenn wir bestrafen, bringen wir Kinder dazu, sich zu fragen: „Was wollen die (die Erwachsenen, die die Macht haben) von mir und was passiert mir, wenn ich es nicht tue?“ Dies ist ein Spiegelbild der Frage, die sich zu Hause oder in der Schule stellt, wenn Kindern eine Belohnung für gutes Verhalten versprochen wird: „Was wollen die (die Erwachsenen, die die Macht haben) von mir und was bekomme ich, wenn ich es tue?“ Bei beiden Fragen spielt ausschließlich das Eigeninteresse eine Rolle. Und beide sind völlig anders als das, von dem wir uns wünschen würden, dass Kinder sich das fragen – etwa: „Was für eine Art Mensch will ich sein?“

Zwei Forscher erklärten ihre Feststellung, dass das Bestrafen von Kindern ihre moralische Entwicklung beeinträchtigt, damit, dass Strafen „den Blick des Kindes auf die Folgen seines Verhaltens für den Akteur, das heißt für das Kind selbst, richten“. Je mehr wir auf Strafkonsequenzen, einschließlich Auszeiten – oder auf Belohnungen, einschließlich Lob –, zurückgreifen, umso geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Kinder darüber nachdenken, welche Auswirkungen ihr Verhalten auf andere Menschen hat. Dagegen steigt vielleicht die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Kosten-Nutzen-Analyse durchführen – das heißt, dass sie das Risiko, erwischt und bestraft zu werden, gegen das verbotene Vergnügen abwägen.


Es ist für sie schwer zu begreifen, warum jemand, der sie liebt, ihnen dennoch Leid zufügt

Diese Reaktionen – das Kalkulieren des Risikos, das Überlegen, wie man es vermeiden kann, erwischt zu werden, das Lügen, um sich selbst zu schützen – leuchten von der Perspektive des Kindes aus durchaus ein. Sie sind vollkommen vernünftig. Was sie jedoch nicht sind, ist moralisch, und das liegt daran, dass Bestrafung – jede Art von Bestrafung, da es in der Natur der Sache liegt – moralisches Denken behindert.

Manche Eltern rechtfertigen ihre Verwendung von Strafen, indem sie betonen, sie liebten ihre Kinder von ganzem Herzen. Dies ist zweifellos wahr. Jedoch schafft es eine zutiefst verwirrende Situation für die Kinder. Es ist für sie schwer zu begreifen, warum jemand, der sie eindeutig liebt, ihnen dennoch von Zeit zu Zeit Leid zufügt. So entsteht die verzerrte Vorstellung, die Kinder vielleicht ihr Leben lang mit sich herumtragen, jemanden zu lieben bedeute auch, ihm Schmerz zuzufügen. Oder sie lernen einfach, dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist, dass sie nur Bestand haben kann, solange der andere genau das tut, was man will.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Liebe und Eigenständigkeit

Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung. Weitere Informationen zu Alfie Kohns Arbeit finden sie auf seiner englischsprachigen Website alfiekohn.org.

Bücher des Autors
Weitere Empfehlungen