Direkt zum Inhalt

In Worte fassen

In Worte fassen von Birgit Genz
Birgit Genz

In Worte fassen

Eine gute Freundin erzählte mir gestern, dass sie in letzter Zeit immer öfter das Gefühl habe, ihre kleine einjährige Tochter wolle ihr etwas erzählen, ihr würden aber noch die Worte fehlen.

So hätte ihre Tochter erst am Vormittag auf den Meisenknödel, auf dem zu diesem Zeitpunkt kein Vogel saß, vor der Terrassentüre gezeigt. Als meine Freundin ihr sagte: „Ja, da ist der Meisenknödel.“, war diese nicht zufrieden, sie zeigte noch einmal begeistert auf den Meisenknödel. In meiner Freundin stieg das Bild des Vogels, der am Vortag auf diesem Meisenknödel gesessen hatte, auf und sie sagte: „Ja, gestern saß darauf ein Vogel, der hat gepickt.“ Mit dem Aussprechen dieser Worte entspannte sich ihre Tochter und lächelte. Ihre Mutter hatte ihre Erzählung verstanden, ihr Erleben war in Worte gefasst worden. Meine Freundin meinte, es sei wie ein kleines, großes Glück gewesen, das sie spürbar durchflutet hätte, als das gegenseitige Verstehen sich in und zwischen ihnen ausgebreitet hatte.

Kleine Kinder in diesem Alter möchten oft etwas erzählen, sind dabei jedoch noch auf die Worte der Mutter (oder des Vaters oder der Oma, des Opas etc.) angewiesen, darauf, dass diese in Worte fassen, was sie erleben. Und sie zeigen sie uns deutlich, wann wir mit unseren Worten ihr inneres Erleben berührt haben und wann nicht. Gelegentlich hüte ich die kleine einjährige Tochter meiner Freundin, sie „spricht“ dann mit mir, möchte sich ausdrücken, und ich antworte in meinen Worten. Nicht immer weiß ich, was sie meint: Von der Terrassentüre konnten wir vor kurzem beobachten, wie Nachbarn ihre Häuser betraten und verließen. „Daaaa!“, sagte das kleine Mädchen, sie zeigte auf eine Frau vor dem Nachbarhaus und blickte mich an. „Da geht eine Frau in das Haus.“ Ein leicht irritierter Blick in meine Richtung. Was ich sagte, war bestimmt nicht falsch: Die Frau war tatsächlich in das Haus gegangen.

Ich hielt einen Moment inne, was konnte sie nur meinen?

Es ist durchaus nicht immer leicht zu wissen, was kleine Kinder vorsprachlich ausdrücken. Ich überlegte: Waren das vielleicht Nachbarn, die meine Patentochter namentlich kannte und war es vielleicht so, dass ihre Mutter oder ihr Vater ihr in solchen Situationen sagen würden: Ah ja, da kommt Frau Soundso nach Hause? Den Namen der Frau kannte ich nun einmal nicht. Also sagte ich 
mich behutsam an ihrer Irritation entlangtastend: Vielleicht stimmt es für Dich nicht ganz, was ich gesagt habe. Vielleicht kennst Du die Frau, ich kenne sie jedoch nicht und weiß ihren Namen nicht.“

Ein leichtes Lächeln, kaum merkbar – die Irritation schien zu weichen. Als ihre Mutter nach Hause kam, fragte ich nach – natürlich kennen sie ihre Nachbarn namentlich, und wenn ihre Tochter ihr Heimkommen zeigt, so ist es eben nicht einfach irgendeine Frau, die in ein Haus geht, sondern Frau Schmidt, die nach Hause kommt.

Das Wohlwollen und das Interesse am anderen sind an sich schon tragend und wesentlich

Trotzdem hatten wir uns verständigen können, und in der Zeit ihrer Irritation war es das Wohlwollen und das Interesse an dem, was sie bewegte und irritierte – auch als ich zunächst ratlos war, das trug. Nicht immer können wir die Irritation auflösen oder finden eine Lösung, doch das Wohlwollen und das Interesse am anderen sind an sich schon tragend und wesentlich.

Das ist in Gesprächen mit Erwachsenen nicht anders. Es grenzt an ein Wunder, dass wir uns überhaupt so gut sprachlich verständigen können. Bedenkt man allein, dass verschiedene Menschen schon bei einem dinglichen Ausdruck wie „Haus“ ganz unterschiedliche innere Vorstellungen haben – von einem abstrakten, emotionalen Ausdruck wie z. B. Freundschaft ganz abgesehen. Es ist das wirkliche Interesse am anderen, das uns auch durch größere oder kleinere Missverständnisse gemeinsam hindurchtasten und nach den richtigen Worten forschen lässt.

Eine Wahrnehmung gibt, die nicht begrifflich ist

Manchmal stehen wir dann an der Schwelle von Worten und spüren, dass wir die Innenwelt eines anderen Menschen letzlich nie kennen werden – auch dann nicht, wenn wir passende Worte für unser eigenes oder das Erleben eines anderen finden. Die Ahnung, dass es letztendlich nie möglich ist, die Grenzen der eigenen Haut und der eigenen Wahrnehmung zu verlassen, bettet gesprochene Worte in die Weite eines Nicht-Wissens ein, das der direkten Erfahrung ihre Lebendigkeit lässt. Wenn wir es zulassen, halten solche Momente eine große Nähe und Intimität für uns bereit mit „unserem“ Kind und mit dem Erleben an sich.

Denn um die innere Welt eines Kleinkindes, das noch nicht sprechen kann, in unseren Worten stellvertretend für das Kind auszudrücken, bedarf es nicht nur genauer Beobachtung, sondern auch unseres Einlassens auf feinere Ebenen der Wahrnehmung. Daraus kann eine Begegnung mit unserem Kind an der Schwelle der Worte entstehen. Vielleicht ist es für uns Erwachsene eine Erinnerung daran, dass es diese Schwelle überhaupt gibt. Wir gehen fortlaufend an ihr entlang und überschreiten sie mit jedem Wort, das wir denken oder sprechen. Vielleicht ist uns auch gar nicht mehr bewusst, dass es eine Wahrnehmung gibt, die nicht begrifflich ist, weil wir diese Wahrnehmung vergessen haben und die Unmittelbarkeit des Erlebens nur noch selten oder sogar gar nicht mehr aufsuchen.

Ist uns dies jedoch bewusst, so erleben wir große Nähe und Intimität mit dem Augenblick. Selbst kleine Dinge – eine einfache Berührung etwa – erscheinen uns dann viel größer als die Worte, die sie beschreiben.

Der Tanz zwischen den Worten und der Stille

Und so ist es: Die Welt des direkten Erlebens hinter den Worten und den Gedanken, mit denen wir sie beschreiben, ist endlos und in ständigem Fluss. Therapieformen wie beispielsweise das Focusing oder Somatic Experiencing arbeiten mit dem direkten körperlichen Wahrnehmen, z.B. der Trauer, die unüberwindlich scheint, sich in der direkten Erfahrung jedoch beispielsweise als schwer, warm, stechend und eben auch in Veränderung befindlich zeigt. Wenn Emotionen im Körper erstarrt sind, führt der Weg über die direkte Erfahrung im Körper häufig zur Lösung.

Das macht sich auch die Traumatherapie zunutze. Doch nicht nur das Erleben der direkten Erfahrung ist kostbar, auch der Ausdruck in Worten hat große und oft heilende Wirkung. Auch mit dieser Fassung, die der sprachliche Ausdruck ermöglicht, arbeitet Therapie. Wir alle kennen auch aus tiefgehenden Begegnungen mit Freunden das wunderbare Geschenk, sich im Zuhören und in den Worten einer anderen Person verstanden zu fühlen und dadurch die eigene Erfahrung besser fassen zu können.

Stellen Sie Ihre Sprache und Intuition zur Verfügung

Die französische Psychotherapeutin Caroline Eliachef beschreibt in ihrem Buch „Das Kind, das eine Katze sein wollte“, welch erlösende und erleichternde Wirkung es auf ganz kleine Kinder und Säuglinge, die noch nicht sprechen können, hat, wenn ihre Erlebnisse oder die Vorgänge, die jetzt um sie herum passieren, den Kindern gegenüber benannt und ausgedrückt werden – 
selbst dann, wenn es schreckliche Erlebnisse sind.

Eine große Erleichterung und ein Geschenk, wenn es in der Begegnung mit einem Gegenüber möglich ist, entlang der Schwelle zwischen Vorsprachlichem und Sprache zu tanzen. Wenn das geschieht, erfahren beide Seiten der Schwelle eine Stärkung: Der sprachliche Ausdruck erfährt eine Präszision, Authentitzität und Frische durch die direkte Berührung mit dem Vorsprachlichen. Und die Wahrnehmung jenseits der Sprache erfährt ein Leuchten und eine Verfeinerung, indem sich ihr die Möglichkeit des sprachlichen Ausdrucks zur Verfügung stellt. Dieser Tanz zwischen Worten und Stille ist auch ein innerer Ort, an dem wir unsere Intuition schulen können: Welche Worte sind es, die sich jetzt wahr anfühlen? Was ist es, das jetzt gesprochen werden möchte? Was ist es, was jetzt gehört werden möchte?

Kinder laden uns zu dieser Erforschung ein, und indem wir ihnen unsere Intuition und Sprache zur Verfügung stellen, lernen wir genauso viel wie sie.

 

Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft April 2017