Direkt zum Inhalt

Komm und sieh

Komm und sieh: Möwen am Meer
Rigdzin Shikpo

Komm und sieh

Mit Offenheit, Bewusstheit und Feinfühligkeit leben lernen

„Komm und sieh!“ So hat der Buddha seine Welt der Offenheit und Bewusstheit beschrieben. Es ist wunderbar, eine solche Anweisung im Herzen einer Religion zu finden. Im Allgemeinen verkünden Religionen keine solche Offenheit. Stattdessen erwarten wir vielleicht eher zu hören, dass wir an etwas glauben müssen, das wir noch nicht verstehen. Glaube hat einen wichtigen Stellenwert in der buddhistischen Lehre, aber es geht eher darum, Vertrauen in die Richtigkeit der Einsichten zu haben, die in unserer Praxis auftauchen.

Wir können nicht damit beginnen, an etwas zu glauben, das wir noch gar nicht erlebt haben. Was wir brauchen ist der „Glaube der Ausdauer“, wie es manchmal genannt wird. Hier, wie überall sonst, müssen wir unseren Geist der Praxis zuwenden und beharrlich weiter üben. Es hilft nicht, all jene Techniken zu erlernen, die uns offener und bewusster machen sollen, wenn wir sie nicht anwenden. Wenn es uns an Vertrauen oder Energie mangelt, unser Wissen anzuwenden, werden sie keine Hilfe sein.

Das gilt für alle Lebensbereiche, sei es Klempner- oder Gartenarbeit oder eben Buddhismus. Der Pfad ist kein leichtes, theoretisches Abenteuer, mit dem man sich einmal pro Woche beschäftigt. Die Härte entsteht durch die Tatsache, dass wir ständig dran bleiben müssen. Das hört sich womöglich einschüchternd an und das ist vielleicht auch gut so. Aber es könnte auch einengend klingen, und das wäre nicht gut.

Fünf Stützen

Es gibt Methoden, mit Offenheit und Bewusstheit zu arbeiten, ohne dass Probleme entstehen. Wenn uns jemand ständig dazu anhalten würde, offen zu sein, würden wir das als sehr lästig und einengend empfinden und wahrscheinlich weglaufen. Stattdessen können wir lernen, uns in den natürlichen Rhythmus von Offenheit und Fokussieren hinein zu entspannen. Buddhisten lieben Listen und so gibt es eine Liste von fünf Aspekten, die hier bedeutsam sind.

  • Zuerst brauchen wir Energie und Ausdauer. Wir können nicht darauf hoffen, Einsicht und Verstehen zu entwickeln, wenn es uns an Energie und Ausdauer mangelt.
  • Als zweites müssen wir lernen, wie wir uns darin entspannen.
  • Drittens brauchen wir den Mut und das Vertrauen, dies zu tun. Wir können nicht ohne Grund hartnäckig weitermachen. Wir müssen aufrichtig fühlen, dass hierin etwas von Wert ist.
  • Der vierte Punkt ist, dass unser Verständnis von Offenheit allmählich wachsen muss. Dies geschieht, indem wir das lernen, was Trungpa Rinpoche als „sei sanft zu dir selbst und mitfühlend zu anderen“ beschrieb; dann sind wir in der Lage, den Pfad auf uns selbst, auf die anderen und auf die Welt anzuwenden.
  • Fünftens gilt es zu verstehen, dass Bewusstheit ganz natürlich wie Ebbe und Flut ab – und zunimmt, und dass es Möglichkeiten gibt, diese Bewusstheit in uns selbst zu fördern.

Natürliche Feinfühligkeit

Die meisten Menschen fragen sich, ob es „eine kritische Masse“ von Realisierung und Praxis gibt, ab der man nicht mehr zurückfällt und ob wir gewöhnlichen Sterblichen erwarten können, diesen Punkt jemals zu erreichen.

Es gibt eine Stufe der Praxis, die als „nicht umkehrbare“ Stufe beschrieben wird. Es ist ein wenig so, als hätte man etwas sehr Schweres einen steilen Hügel hinaufgeschoben. Das ist sehr harte Arbeit, bis du den Gipfel erreicht hast. Danach kannst du auf der anderen Seite ganz einfach hinunterrollen.

Das bedeutet nicht, dass plötzlich alles eitel Sonnenschein ist. Wir gehen immer noch durch schmerzhafte Erfahrungen. Sie könnten sogar noch schmerzhafter erscheinen, weil wir nicht mehr auf unsere Fähigkeit, für uns Unangenehmes zu ignorieren, zurückfallen können. Auf dieser nicht umkehrbaren Stufe sind die Schleier, die unseren Weitblick verdeckt hatten, so weit gefallen, dass wir die leidvolle und aufreibende Eigenart der Erfahrung klarer erkennen können. Und sogar angenehme Dinge können schmerzhaft und scharfkantig scheinen, wenn wir uns nicht völlig auf sie einlassen. All dies steht in Zusammenhang mit Buddhas Wahrheit von duhkha oder Leiden.

Sobald wir jedoch in einer völlig offenen Weise in die Dinge eintreten, wird diese schmerzhafte Natur eher wie eine Erfahrung der Wonne. Im Grunde ist sie weder wohltuend noch schmerzhaft, aber auch nicht neutral. Deshalb ist Feinfühligkeit ein solch guter Begriff dafür. Feinfühligkeit ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit und beinhaltet sowohl Schmerz als auch Wohlgefühl. Die Kraft von Offenheit und Bewusstheit führt zu einer panoramahaften Vision, die jegliches in unserem Schmerz oder unserem Vergnügen enthaltene Gefühl von Eingeengtheit entfernt.

Lernen mit Offenheit, Bewusstheit und Feinfühligkeit umzugehen

Offenheit, Bewusstheit und Feinfühligkeit für unsere inneren und äußeren Welten sind neutral. Sie sind uns aufgezwungen, ob uns das gefällt oder nicht. Wie könnten wir ohne diese uns innewohnende Qualität der Klarheit und Bewusstheit irgendetwas um uns herum bemerken?

Ein gewisses Ausmaß an Offenheit ist immer gegenwärtig, schon allein deshalb, weil die Welt um uns herum das Andere ist. Gleichgültig, wie sehr wir uns bemühen, jene Qualität von Raum zu erlangen, zu manipulieren oder zu erobern, wir sind darin niemals ganz erfolgreich. Wir könnten Unwillen gegen diese Offenheit und den Wunsch verspüren, sie wegzuschieben, aber ihre Existenz lässt sich nicht verleugnen.

Unsere natürliche Feinfühligkeit ist mit Emotionen verknüpft und mit der Art und Weise, wie wir die Welt empfinden. Sie könnte sich ausdrücken als „Ich will das nicht“ oder „Ich wünsche, ich wäre nicht hier!“ Menschen, die Selbstmord begehen, tun dies manchmal aus Feinfühligkeit heraus – mit dem Wunsch, dass diese Feinfühligkeit aufhören möge. Aber Offenheit, Bewusstheit und Feinfühligkeit sind gegeben. Ohne sie würden wir nicht existieren. Sie sind immer vorhanden und wir müssen lernen, mit ihnen umzugehen.

Revolutionäre Einfachheit

Wir betonen oft die Wichtigkeit von Offenheit, Bewusstheit und Feinfühligkeit für die buddhistische Praxis. Durch diesen einfachen Ansatz lernen wir unsere Welten kennen und anfangs begreifen wir womöglich nicht, wie revolutionär das ist.

Wir könnten Offenheit, Bewusstheit und Feinfühligkeit als Techniken verwenden. Aber die Technik besteht im Wesentlichen aus einer inneren Haltung: Du bist der König oder die Königin deiner Welt und alles ist vor dir ausgebreitet; nichts ist ausgelassen. Darin liegt eine wunderbare Einfachheit. Du benötigst keine weiteren Hilfsmittel oder eine besondere Weisheit von anderswoher.

Weisheit liegt innerhalb deines Seins, in einer sehr direkten und einfachen Weise. Die einzige Schwierigkeit liegt darin, dich mit dieser Einfachheit zu verbinden. All die Techniken, Ratschläge und manchmal auch Zuckerbrot und Peitsche sind Kunstgriffe: stufenweise Methoden, die uns erkennen helfen, dass alles hier und jetzt da ist, und ganz unmittelbar in unserer eigenen Natur entdeckt werden kann.

Ein Sirenengesang

Unsere Natur, unser Sein ist nicht mit Ichbezogenheit oder Egoismus verknüpft. Es gibt kein getrenntes, konkretes Selbst innerhalb unseres Wesens oder unserer Erfahrung. Der Glaube an ein solches Selbst, die Vorstellung, es sei notwendig, ist Teil des Zauberbanns, ist ein Sirenengesang: „Ohne mich könntest du nicht denken, sehen, riechen, schmecken oder Emotionen spüren; du könntest dich nicht gut oder schlecht fühlen.“ Und das ist, wie sich herausstellt, vollkommener Unsinn. Genau diese Ichbezogenheit kommt unserem Denken, Fühlen, Erfahren und dem angemessenen Umgehen mit Dingen in die Quere. Selbst im gewöhnlichen Sinne sagen wir: „Da war mein Ego im Spiel.“

Die Lehre des Buddha kann wie eine große Kampagne gegen das Ego klingen, aber es ist schwierig, etwas loszuwerden, das von Anfang an niemals existierte. Aus buddhistischer Perspektive ist das Ego lediglich eine falsche Idee, die wir loslassen müssen. Durch die Meditationspraxis begreifen wir allmählich, dass unser Geist tatsächlich blockiert ist. Wir wollen offen, klar und glücklich sein, in der Lage sein, mit anderen umzugehen, aber irgendetwas scheint das zu stören. Wenn wir dies ganz unmittelbar erleben, können wir die Welt nicht mehr in rosa sehen. Aber interessanterweise ist es auch möglich, ein zu düsteres Bild der Welt zu zeichnen.

Ich kannte einmal eine Frau, die mit ihrer Praxis nie sehr weit kam. Der Anfang fiel ihr leicht. Aber dann griff sie stets auf das Vokabular der Therapie zurück und sagte so etwas wie: „Wie kann ich meiner Erfahrung trauen? Sie enttäuscht mich stets. Immer gibt es ein Problem. Sobald ich etwas tue, habe ich das Gefühl, es aus Gründen zu tun, deren ich mir nicht bewusst bin.“ Diese Art zu denken macht im Grunde alles zunichte. Wenn wir unserer Erfahrung nicht trauen, können wir keine Schritte in Richtung Verstehen machen. Und wenn Einsicht dann tatsächlich entsteht, werden wir uns nicht sicher sein, dass wir sie erfahren haben.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Wende dich niemals ab.