Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Wie der Dichter Hermann Hesse es beschrieben hat, wohnt jedem Anfang ein Zauber inne, eine Freude, eine Euphorie, die uns weiterträgt, wenn der Anfang erst einmal gemacht ist. Zugleich steht an jedem Anfang eine Vielzahl offener Fragen. Du kennst das Menschenwesen noch nicht, das jetzt vor dir liegt. Du kennst das Mutterwesen nicht, das in dir entstanden ist. Und du kennst den Weg nicht, auf dem ihr gehen werdet.
Vielleicht hast du Vorbereitungen getroffen, Bücher gelesen oder Einkäufe getätigt, Wände tapeziert oder geübt, wie man ein Baby badet. Du hast vorgesorgt, so gut es dir möglich war. Vielleicht glaubst du, du hättest noch mehr tun können, vielleicht wünschst du dir, es sollte perfekt sein. Wenn es aber perfekt wäre, gäbe es keinen Raum mehr für lebendige Weiterentwicklung. So hast du dein Bestes getan: Du hast Vorbereitungen getroffen und du hast Raum gelassen. Hätte es wirklich mehr sein müssen?
Vor dem Neubeginn standen Grenzen, die erschüttert, geweitet und überwunden werden mussten. Dein Kind scheint klein und hilflos zu sein, und doch, indem es die Grenze überwunden hat, zeigt sich schon, dass auch alle Voraussetzungen für den Anfang in vollkommener Weise in ihm angelegt und verfügbar sind. Denn so ist es vom ersten Tag an: Erst indem wir Grenzen überwinden, können wir erfahren, dass die Grundlagen für den Weg hinter der Grenze nicht nur durch äußere Bedingungen, sondern auch tief in uns selbst angelegt sind. Jetzt ist alles in vollkommener Weise vorbereitet, für das, was kommen wird.
Dein Baby empfindet sich selbst durch Dich
Nach allem, was wir heute aus der Entwicklungs- und Bindungsforschung wissen, ist das Bedürfnis deines Kindes nach Verbindung zu dir allumfassend, ja radikal. Deine Stimme, dein Herzschlag und dein Geschmack sind deinem Kind seit langer Zeit bekannt. Dich zu hören, zu schmecken, zu riechen und zu fühlen, gibt deinem Kind das Gefühl für sich selbst. Es empfindet dich wie sich selbst, es empfindet sich selbst durch dich. Ihr seid jetzt zwei getrennte Körper, und doch ist dein Kind ganz auf dich bezogen.
Als Mutter so umfassend gewollt und gebraucht zu sein, ist eine Erfahrung, die uns tief berührt und herausfordert. Wie sollen wir allem gerecht werden? Wie können wir diese Verantwortung tragen? Woher sollen wir denn wissen, was richtig ist? Woher nehmen wir die Sicherheit?
Es ist in unserer heutigen Gesellschaft eine anspruchsvolle Aufgabe, Kinder auf ihrem Weg zu begleiten, denn es mangelt uns nicht an hohen Ansprüchen, Leistungsdenken und Zeitdruck. Unter diesen Bedingungen ist es oft nicht einfach, einen Rahmen aus Vertrauen, Zeit, Achtsamkeit und Einfühlung zu gestalten, der es Kindern ermöglicht, sich zu entfalten, und der es Frauen leicht macht, Mutter zu sein. Dabei fehlt es nicht an Experten und auch nicht an Rezepten. Zugleich aber erfahren wir heute in vielen Bereichen, dass schnelle Lösungen, fertige Rezepte und aufgesetzte Konzepte nicht dauerhaft wirksam sind, sondern kurzfristig und oberflächlich bleiben. Auch viele Erziehungskonzepte der Vergangenheit, die einseitig darauf ausgelegt waren, schnelle Ergebnisse zu erzielen, sind unwirksam geworden und zum Scheitern verurteilt.
Forscherin auf einem unbekannten Weg
Als neue Mutter am Anfang zu sein bedeutet daher auch, Forscherin auf unbekannten Wegen zu sein. Und so stelle ich mir dich vor: als neugierige Beobachterin, die ihre Aufmerksamkeit darauf ausrichtet, jetzt, langsam, Schritt für Schritt den Weg zu erkunden, der vor ihr liegt. Die nach Quellen der Lebendigkeit forscht, die ihr Leben und das Leben ihres Kindes bereichert und stärkt. Die es zulässt, dass Fragen aufkommen, und die es aushält, dass Antworten manchmal auf sich warten lassen. Und der es vielleicht immer öfter gelingt, den Zeitraum, der zwischen Frage und Antwort liegt, als Freiraum willkommen zu heißen, um äußere Vorgänge zu beobachten und sich in innere Zustände einzufühlen.
In deinem Leben als Mutter wirst du, wie alle Mütter vor dir, immer wieder am Anfang stehen. Du wirst ratlos sein, wenn dein Kind satt und sauber ist und trotzdem weint. Du wirst dich manchmal hilflos fühlen angesichts der Wut, die ein Kleinkind ausdrücken kann. Du wirst dir Gedanken darüber machen, ob sich dein Kind gut entwickelt, ob es gesund ist und ob du ihm genug geben kannst. Du wirst vielleicht an deinen Fähigkeiten zweifeln, wenn alles mal wieder ganz anders ist, als gewünscht und geplant. In all diesen Situationen stehen Mütter immer wieder am Beginn eines neuen Prozesses, der uns dazu bringt innezuhalten, nachzufragen, zu beobachten und uns einzufühlen.
„Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“
Innezuhalten und uns in uns selbst und unser Kind einzufühlen bedeutet auch, dem harmonischen Wachstum der Antworten, die in uns selbst ruhen, Wirksamkeit zu verleihen. Auf diese Antworten zu warten braucht Ruhe und Geduld. Letztlich aber sind es diese in uns selbst gereiften Antworten, die sich langfristig als tragfähig und lebensdienlich erweisen. In dem afrikanischen Sprichwort „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“ liegt eine tiefe Weisheit, die nicht nur für die Entwicklung unserer Kinder, sondern auch für unser eigenes Wachstum gilt.
Im Leben mit Kindern immer wieder vor neuen Aufgaben zu stehen verhindert, dass wir starre Konzepte entwickeln, in Gewohnheiten verfallen und im Umgang mit unseren Kindern nur noch automatisch reagieren. Und doch passiert es oft, dass wir automatisch handeln oder reagieren, weil wir in unserem bisherigen Leben bereits Konzepte und Erfahrungen verinnerlicht haben, die uns bewusst oder unbewusst steuern.
Auf die innere Quelle der Intuition vertrauen
Kinder aber setzen unserem vergangenen Leben ein vehementes „Hier und Jetzt“ entgegen. Und gerade dann, wenn sich dein Kind anders verhält, als du es erwartest, gerade dann, wenn eine Situation anders verläuft als geplant, eröffnet sich dir die Chance, dich wieder und wieder auf Spurensuche zu begeben. Sind es fremde Konzepte, Erfahrungen aus vergangenen Situationen oder ist es deine gegenwärtige Beobachtung und deine Intuition, die dich leiten?
Unter Intuition verstehen wir im Allgemeinen die Gabe, Entscheidungen „aus dem Bauch heraus“ zu treffen. Müttern wird seit alters her eine hohe Intuition zugeschrieben, einen Zugang tiefer innerer Weisheit. Wie aber gelangten die Mütter vor uns an diese innere Quelle? Seiner lateinischen Bedeutung nach meint das Wort intueri "beobachten, betrachten, die Aufmerksamkeit ausrichten".
Erst aus der interessierten, offenen Beobachtung, die gerade nicht an äußeren Rezepten und vorgefertigten Denkmustern festhält, sondern den Blick nach innen lenkt, wächst unser intuitives Wissen. Wäre es also vorstellbar, dass in der Schwangerschaft ein innerer Raum gedehnt und erweitert wird, der Frauen als Quelle des Wissens für ihre Aufgaben als Mutter zur Verfügung steht?
Ins Mutter-Sein hineinwachsen...
Aus den Erkenntnissen der Neurobiologie wissen wir heute, dass Bauch, Herz und Hirn tatsächlich durch ein umfassendes Netzwerk neuronaler Zellen miteinander verbunden sind. Vielleicht kannst du beobachten, dass deine Fähigkeiten, auf dieses innere Wissen zuzugreifen, mit der Zeit wachsen und reifen; so wie dein Kind wächst und reift und wie auch du in den nächsten Jahren in dein Mutter-Sein hineinwachsen wirst.
Wenn wir im Leben mit Kindern den Weg der Intuition und der achtsamen Beobachtung wählen, geht es nicht darum, nur ein weiteres Konzept anzuwenden, das unser Leben glücklich, leicht und schmerzfrei macht. Es geht auch nicht um ein Rezept, mit dem unsere Kinder dazu gebracht werden können, immer das zu tun oder so zu sein, wie wir es uns wünschen oder erwarten. Es geht vielmehr um einen gemeinsamen Weg zu den Quellen des Lebens, die uns, unseren Kindern und letztlich allem Leben auf unserer Erde dienen.
Nach meiner Erfahrung sind uns unsere Kinder auf diesem Weg immer ein Stück voraus. Auf eine Weise scheinen sie um ihren und unseren Weg zu wissen, und doch brauchen sie es, von uns Erwachsenen begleitet zu sein. Indem wir durch Intuition und Weitblick den Raum erschaffen, innerhalb dessen sich unsere Kinder entfalten können, führen sie uns auf direktem Weg zu den Quellen der Lebendigkeit.
Insofern kann in der Herausforderung, immer wieder auf den Weg der Intuition und Achtsamkeit zurückzukehren, der Reichtum liegen, den das Leben mit Kindern mit sich bringt. Immer wieder darfst du noch einmal beginnen und aus der Vielzahl dieser Neuanfänge, die sich aneinanderreihen, ergibt sich mit der Zeit der Weg, den ihr zusammen gegangen seid.
Erschienen in der Zeitschrift "Mit Kindern wachsen", Ausgabe: Sonderheft Säugling und Kleinkind