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In bester Absicht – aber durch die eigene Brille

In bester Absicht – aber durch die eigene Brille
Anne Hackenberger

In bester Absicht – aber durch die eigene Brille

In früheren Generationen schlugen Eltern ihre Kinder in der Überzeugung, dies sei „nur zu ihrem Besten“.  Tatsächlich gab es die Überzeugung, Kinder müssten mit solchen Methoden erst zu richtigen Menschen erzogen werden und wer dies versäumte, hatte seinen Elternjob nicht gut gemacht. Diese Überzeugung verhinderte oft, dass Eltern ihre  Handlungen infrage stellten oder das Leid ihrer geschlagenen Kinder wirklich wahrnahmen. Es war ja zu deren Besten – oder zumindest zum Besten des Gewissens der Eltern. Die allermeisten Eltern wissen heute zum Glück, dass körperliche Gewalt das Gegenteil vom Besten ist.

Es bleibt jedoch wichtig, auch heute zu hinterfragen, was wirklich das Beste für unsere Kinder ist. Heutige Eltern tun das auch, in allerbester Absicht, aber nicht immer mit dem besten Ergebnis. Nicht selten entspringt aus eigenen Kindheitserfahrungen der große Wunsch, es selbst anders zu machen. Vielleicht sogar das Gegenteil zu machen. Als Eltern wünschen wir uns nichts mehr, als leidvolle Erfahrungen von unseren Kindern fernzuhalten. Wir wollen um jeden Preis verhindern, dass unsere Kinder denselben Schmerz erleben, den wir selbst erfahren haben. Das ist sehr verständlich.

Was ist das Beste und für wen?

Trotz bester Absichten übersehen wir dabei möglicherweise bestimmte Aspekte. Beispielsweise könnte eine Mutter, die selbst wenig Zuneigung und Nähe im Elternhaus erfahren hat, den nachvollziehbaren Wunsch haben, ihrem Sohn Gefühle wie Einsamkeit und Zurückweisung zu ersparen, und deshalb besonders liebevoll mit ihm umgehen. Sie ist extrem sensibel für alle Gefühlslagen ihres Sohnes und mutet ihm so wenig Frustration wie möglich zu. Sie umsorgt ihn ausgiebig, kuschelt viel mit ihm und trägt ihr Baby den ganzen Tag am Körper. Sie stillt ihn mehrere Jahre und er schläft nur mit ihr zusammen ein. Sie entscheidet sich dafür, ihn nicht in den Kindergarten zu schicken, weil sie ihr Kind für sehr sensibel hält. Als er ins Schulalter kommt, hat ihr Sohn Schwierigkeiten, sich zu lösen, und die Mutter entscheidet, die Einschulung noch ein Jahr zu verschieben und in eine andere Stadt zu ziehen, um ihn dort auf eine freie Schule zu schicken. Sie würde alles für ihr Kind tun. Manchmal malt sie sich aus, wie es sein wird, wenn er auszieht. Gut, dass er noch so klein ist. Um die Angst des irgendwann drohenden Verlustes nicht so sehr zu spüren, geht sie noch einmal ins Kinderzimmer und kuschelt sich zu ihm ins Bett. Dankbar, dass er da ist.

Jede liebevolle Handlung ist grundsätzlich vollkommen in Ordnung und kann genau richtig sein: das Allerbeste für das Kind. Es lohnt sich aber, genauer hinzuschauen. Es kann nämlich auch sein, dass es nicht unbedingt das Allerbeste für die Tochter ist, sondern eher für die Mutter und die nicht beantworteten kindlichen Bedürfnisse des kleinen Mädchens, das sie einmal war. Und das ist ein Unterschied. Während wir uns ganz sicher sind, dass Gewalt absolut grenzüberschreitend ist, sind wir uns nicht im Klaren darüber, dass „Liebe“ es auch sein kann. Für die Mutter aus unserem Beispiel ist der Sohn die langersehnte beständige Bezugsperson, die sie als Kind so schmerzlich vermisst hat. Sie ist froh, dass sie ihre eigene Einsamkeit nun nicht mehr so stark erlebt. Sie fühlt sich am wohlsten, wenn ihr Kind in ihrer Nähe ist und sie dafür sorgen kann, dass es ihm gut geht. Ein Kind zu haben fühlt sich erfüllend und sinnstiftend an. Als ihr Sohn älter wird, fällt es der Mutter schwer, seine Autonomiebestrebungen zu unterstützen, und auch mit der ersten Freundin ihres Sohnes hat sie Schwierigkeiten. Ihr Leben dreht sich in erster Linie um ihr Kind, und das aus den allerbesten Absichten.

Jedes Kind hat es verdient, sich bedingungslos geliebt zu fühlen

Viele Jahre später sieht sich der Sohn in seinen eigenen intimen Beziehungen mit Schwierigkeiten konfrontiert. Es fällt ihm schwer, Nähe zuzulassen. Er fühlt sich schnell von seinen Beziehungspartnerinnen erdrückt und besteht auf viel Freiraum. Als er selber Vater wird, fällt es ihm schwer, seinen Kindern emotional nah zu sein, und er erzieht sie früh zur Selbstständigkeit. Hauptsache, sie fühlen sich nicht so eingeengt wie er damals. Seine Kinder haben das Gefühl, dass ihr Vater sich nicht so richtig für sie interessiert und sie seine Aufmerksamkeit nur durch besondere Leistungen auf sich ziehen können.

Das Beispiel verdeutlicht die Wichtigkeit, eigene Erfahrungen bewusst zu reflektieren und für die unerfüllten Bedürfnisse aus unserer Kindheit liebevoll und mitfühlend selbst Verantwortung zu übernehmen. Jedes Kind hat es verdient, sich bedingungslos geliebt zu fühlen und sich zu einem eigenständigen Menschen zu entwickeln. Wenn unsere Eltern das nicht leisten konnten, dann ist es notwendig, dass wir uns selbst im Erwachsenenalter um diese alte Wunde kümmern und sie bestmöglich versorgen. Auf diese Weise können wir verhindern, unsere Kinder trotz bester Absichten zu benutzen, um unsere eigenen Nähebedürfnisse zu stillen oder sie nicht nah genug an uns heran zu lassen. Wir übersehen dann, dass unser Kind eigentlich gerade eine Kuschelpause braucht – und ganz gern mit anderen Kindern spielt – und dass der pubertierende Sohn froh darüber ist, dass seine Mutter auch noch andere Interessen hat und er ungestört sein Ding machen kann, ohne die Verantwortung für das Wohl seiner Mutter übernehmen zu müssen, weil sie sich selbst um sich kümmert und der Sohn sich freut, wenn ihm der Vater doch noch beim Anziehen hilft, obwohl er das doch schon selbst kann.

Übertragung der eigenen Innenwelt

Es ist nicht im Sinne der Kinder, wenn Eltern ihre eigenen Kindheitserfahrungen auf die Erfahrungswelt ihrer Kinder übertragen. Bloß weil ich mich als Kind im Dunkeln gegruselt habe, heißt das nicht, dass mein Kind ein Nachtlicht braucht (außer es verlangt ausdrücklich danach). Bloß weil meine Eltern mir nicht zugetraut haben, den Schulweg alleine zu schaffen, heißt das nicht, dass mein Kind nicht alleine zum Bäcker gehen kann. Und bloß, weil ich sehr früh selbstständig sein musste, heißt das nicht, dass meine Kinder das auch müssen. Bloß weil ich kein Fußballstar geworden bin, braucht mein Kind nicht ins Trainingslager, wenn es nicht will.

Ich bin ich und du bist du

Es ist entscheidend, zu erkennen, wann uns der Blick verstellt ist auf die eigentlichen Bedürfnisse unserer Kinder. Vielleicht ist mein Kind gar nicht so ängstlich, wie ich denke – oder nicht so mutig, wie es meine Eltern von mir verlangt haben.

Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass wir die Welt oft durch die Brille unserer eigenen Prägungen sehen. Es lohnt sich, uns dieser Brille ab und an bewusst zu werden und mit frischem Blick auf unser Kind zu schauen und sich selbst daran zu erinnern: „Ich bin ich, und du bist du.“ Das kann auch entlastend sein! Wir können uns fragen: Was brauchst du wirklich? Was ist das Beste für dich?  

Wenn wir merken, dass dieses Beste mit unseren eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen kollidiert, dann ist das erst einmal irritierend und schmerzhaft. Dann ist es hilfreich, präsent zu bleiben mit dem, was in uns auftaucht. Zu atmen mit dem alten Schmerz. Momente des Leidens verdienen Mitgefühl. Es ist sehr verantwortungsvoll und wahres Erwachsensein, wenn wir uns den Verletzungen aus unserer eigenen Geschichte zuwenden. Wir können auf diese Weise den Kreislauf wirklich durchbrechen. Dann handeln wir zum Besten aller.

 

Anne Hackenberger ist Paar- und Familientherapeutin sowie Achtsamkeitslehrerin. Die Mutter zweier Söhne unterstützt (werdende) Eltern darin, ihre Kinder und sich selbst bewusster zu erleben – hin zu einem achtsameren Familienleben. Mehr zu Anne Hackenberger und ihren Angeboten finden Sie auf ihrer Website: https://achtsamkeit-und-familie.de

 

Dieser Text ist erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Januar 2024