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Der älteste Tanz des Menschseins

Der älteste Tanz des Menschseins – Picknick
Miriam Maja Gass

Der älteste Tanz des Menschseins

Wie Nahrung, Eltern-Kind-Beziehung und Fürsorge zusammenhängen

Ich geb’s zu: Wenn mein Sohn zufrieden das von mir zubereitete Essen isst – das macht was mit mir. Genau genommen macht mich das richtig glücklich! Dieses Glücksgefühl – ich spüre es irgendwo tief innen in meinem Bauchraum.
Wie kann es sein, dass es mich so beglückt, mein Kind zufrieden essen zu sehen?
Irgendwie vermittelt mir das so etwas wie: Meine (kleine) Welt ist in Ordnung. Mein Kind nimmt meine Liebe und Fürsorge an. Ich kann als Mutter dafür sorgen, dass mein Kind satt und glücklich ist!
Wow. So basal.
Ich habe leicht reden: Mein Sohn hat immer schon (okay, bis auf wenige Ausnahmen ;-) voller Freude gegessen, was ich ihm angeboten habe. Er hat weder Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder Allergien, noch irgendwelche anderen körperlichen Einschränkungen, die einem entspannten Essensgenuss entgegenstehen. Doch auch meine winzige Ein-Elternteil-Familie ist von kleinen und größeren Krisen nicht verschont geblieben.
Dabei ist mir eins klar geworden: Ein Kind mit Nahrung zu versorgen – das entspringt nicht nur meiner natürlichen elterlichen Fürsorge. Es ist auch eine Art elterliche Superpower! Und diese Superpower gilt es, nicht zu früh und schon gar nicht leichtfertig aus der Hand zu geben.
Was meine ich damit? Wenn ich merke, dass sich die Verbindung zu meinem Kind – weswegen auch immer – brüchig anfühlt, bleibt mir immer eine sichere Strategie: Mein Kind mithilfe seines Lieblingsessens wieder „einzusammeln“. Das kann nach einem missglückten Start in den Tag zum Aufbruch dann die Lieblingsveggiesalami in der Brotbox sein. Oder das kann der heimelige Duft nach frischgebackenem Bananenbrot sein, der mein Kind bei seiner Rückkehr nach Hause empfängt. Das kann nachmittags ein leckerer Snack nach einem langen Schultag sein, mit Apfelsaftschorle, Crackers und Keksen, der ausnahmsweise auch mal beim Lümmeln auf dem Sofa gegessen werden darf, oder auch das Lieblingstrostessen für schräge Tage: Kartoffelpüree, warmer Grießbrei mit Kirschen oder Nutella-Toast.
Dabei erwarte ich nicht, dass während des Essens viel gesprochen wird: gar nicht. Mein Kind mit merklich für seine emotionale Situation sensibel ausgewählter Nahrung zu versorgen ist lediglich mein – indirekter – Weg, um meinem Kind zu vermitteln:
• „Willkommen zurück zu Hause!“
• „Ich freu mich, dass du da bist und wir wieder zusammen sind!“
• „Ich weiß genau, was du magst, und ich versorge dich damit“!
• „Hier kannst du es dir gemütlich machen und zur Ruhe kommen!“
In dem Fall geht es mir voll und ganz darum, die Beziehung mit meinem Kind wieder anzuwärmen und sie wieder geschmeidiger zu machen. Sie wie ein wenig zu ölen – und das gelingt mir mit Essen UND mit der Einladung in die Beziehung. Vorstellungen von ausgewogener Ernährung lasse ich an der Stelle übrigens getrost links liegen.
Voll und ganz auf die Verbindung hin zu handeln heißt für mich an der Stelle auch:
• Ich weiß genau, welches Essen mein Kind liebt
• Ich frage mein Kind nicht, welches Essen es sich wünschst, sondern bereite dessen Lieblingsessen stattdessen proaktiv vor
• Ich konzentriere mich während der Mahlzeit mehr auf die Beziehung als aufs Verhalten
• Ich verzichte auf Verhaltenskorrekturen und Disziplinierungsmaßnahmen – also kein „du musst“, „du solltest“, „wenn du nicht…, dann…“
• Ich bringe Spiel und Spaß mit – erzähle zwischendurch vielleicht einen Witz oder eine Geschichte oder wir lösen während des Essens ein paar Wissensfragen.
Klar ist übrigens auch, dass dieser Beziehungsraum eine absolut schamfreie Zone ist…

Wenn’s rund ums Essen hakt

Doch was tun, wenn Essen ein Thema ist, das einer geglückten Eltern-Kind-Verbindung eher in die Quere kommt, als dass es diese nährt?
Wenn
• Dein Kind sehr fordernd auftritt und dir genau vorschreibt, wie du es zu versorgen hast: „Ich esse nur etwas, wenn du mir Nudeln machst!“
• Dein Kind dich abwehrt und zu einem kleinen Suppen-Kaspar wird: „Ich esse keine Suppe! Nein!“, „Hab keinen Hunger!“
• Dein Kind nur ganz wenige, bestimmte Nahrungsmittel isst und rigide daran festhält oder
• vermischte Speisen verweigert?
Dann wird Essen auf einmal ein unglaublich kompliziertes Thema!
So geht es meiner Schwester mit ihrer 6-jährigen hypersensitiven Tochter: Seit Monaten isst meine kleine Nichte kaum etwas anderes als weiches Weißbrot mit Butter. Höchstens vielleicht einmal noch ausnahmsweise Nudeln oder etwas Reis. Ihr Kommentar zu den allermeisten Speisen lautet kurz: „Eklig!!!“ Sie snackt eher einmal zwischendurch und husch, ist sie auch schon wieder vom Esstisch verschwunden. Das ist für uns Erwachsene nicht gerade das, was wir unter einem entspannten gemeinsamen Familienessen verstehen.
Hier lohnt es sich hinzuschauen. Denn hier gilt es zu verstehen, ob sich unter dem herausfordernden Essverhalten eines Kindes emotionale Themen, Beziehungsdynamiken oder auch sensorische Überempfindlichkeiten verbergen. Kindliche Dominanz und Abwehr sind zum Beispiel zwei häufige emotionale Dynamiken, die sich beim Thema Essen oft sehr deutlich zeigen.
Aus welchen – vermutlich vielfältigen – Gründen auch immer. sind viele Kinder heutzutage zudem viel dünnhäutiger und hypervigilanter, als wir Erwachsene das gewohnt sind. Das Kind ist vielleicht ausgesprochen empfindsam und reizempfindlich und nimmt durch seine hohe sensorische Empfindsamkeit Gerüche, Textur und Geschmacksrichtungen viel intensiver wahr als andere Kinder: Wie die Nahrung sich sensorisch an Lippen und Mund anfühlt: weich, hart, glibberig, heiß oder kalt. All diese Empfindungen wühlen ein solches Kind stark auf. Und führen das Kind – wen wundert es? – schnell in eine sensorische Überreizung. Für ein hochempfindsames Kind kann es auch herausfordernd sein, verschiedene Geschmacksrichtungen zu kombinieren. Je jünger es ist, desto weniger ist es in der Lage, verschiedene Geschmacksrichtungen zu integrieren, und es bleibt daher lieber bei einem bekannten Geschmack. Wie meine kleine Nichte eben, für die weiches Weißbrot mit Butter die Krönung einer leckeren Mahlzeit ist.
Die gute Nachricht ist aber: Mit zunehmender Gehirnreife wird auch ein hochempfindsames Kind mehr und mehr in der Lage sein, verschiedene Lebensmittel und Geschmäcker zu kombinieren. Hier braucht es Zeit und Geduld, ein graduelles Bekanntmachen mit Neuem. Und das möglichst ohne Zwang und Druck.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass manchmal der anstrengende Tisch nicht der richtige Ort ist, um zu essen! Gerade in stressigen Zeiten oder nach einem sehr langen Tag braucht es vielleicht eher das Tipi, das Hochbett oder eine Picknickdecke im Wohnzimmer. Das sind Orte, die deinem Kind ausreichend Schutz vor sensorischer Überflutung und Ruhe bieten. Denn eins ist klar: Ruhe ist unerlässlich, um zu essen! Und um Nahrung richtig verdauen und verwerten zu können. Unser Verdauungssystem funktioniert nämlich nur ordnungsgemäß, wenn wir in einem Zustand von Ruhe sind. Sind wir aufgewühlt und alarmiert, stehen unserem Magen-Darm-Trakt schlicht bestimmte – für die Verdauung wichtige Hormone – nicht zur Verfügung. Spannend, oder?
Nur, wie finden wir die Ruhe?

Satt und Glücklich: Durch Nahrung UND Beziehung

Der Weg in die Ruhe ist seit Menschengedenken immer: eine warme, geborgene Beziehung und das Zusammensein mit denjenigen, an die wir gebunden sind. Um wirklich satt und glücklich zu sein, braucht es das Erleben nährender Verbindung. In beidem liegt das Nährende: In der Nahrung und in ihrem gemeinsamen Einnehmen innerhalb einer Beziehung. Das Wissen um den Zusammenhang von Nahrung und Beziehung scheint aber in unserer Kultur verloren gegangen zu sein, denn die Tendenz geht deutlich hin zu individualisiertem Essen. Zum Essen außerhalb der Familie. Zum Essen vor dem Rechner, im Auto oder sogar während des Gehens.
Bloßes Essen, abgetrennt von einem Kontext der Verbindung, führt unser Gewahrsein aber weder zu der- oder demjenigen, die uns mit Essen versorgen, noch dahin, wo unsere Nahrung herkommt. Essen ist aber eben nicht nur ein biologischer Akt, sondern vor allem ein sozialer und zutiefst emotionaler Akt! Ein Akt von Verbindung! Ein Kind ist von Natur aus evolutionär tatsächlich so prädisponiert, Essen und Fürsorge nur von denjenigen anzunehmen, an die es emotional gebunden ist. Und nicht von Fremden. Das macht völlig Sinn, oder?
Als Bindungswesen sind wir darauf gepolt, mit denjenigen zusammen zu essen, an die wir gebunden sind. Das Geschenk des Essens liegt daher nicht nur im
physisch Nährenden der Nahrung und der Fürsorge, die wir dadurch von der Erde empfangen, sondern auch im emotional Nährenden der Verbindung: der Verbindung mit unserer ursprünglichen sozialen Natur, mit der Kraft von Beziehung – und natürlich mit unseren Kindern. Das Geschenk ist die immer wieder gestärkte Verbindung mit dem ältesten Tanz des Menschseins: diejenigen mit Nahrung zu versorgen, die wir lieben.
Eine Verbindung, die uns tief nährt – und uns satt und glücklich macht!

 

Miriam Maja Gass

Miriam Maja Gass ist ausgebildete Musikerin, Heilpraktikerin für
Psychotherapie und Elterncoach.
Sie hilft Eltern dabei, ihr Kind (noch) besser zu verstehen und ihre Eltern-Kind-Beziehung zu stärken. Ihre Angebote finden Sie auf:
https://www.mmg-elterncoaching.de
kontakt [at] mmg-elterncoaching.de