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Zuhören

Zuhören von Sonja Welker
Sonja Welker

Zuhören

Moritz, ein kleiner Zweijähriger, schlägt in einer Spielgruppe mit einer Querflöte (ein langes schwarzes Rohr aus Hartplastik) auf den Teppich. Die Mutter geht hin, und sagt: „Die ist zum Flöten, nicht damit auf den Teppich schlagen“. Moritz hält inne, schaut sie an und sagt dann: „Aber das macht doch so ein schönes Geräusch.“ Das also hat ihn daran so fasziniert. Wir nehmen einen Schlägel und hören, ob das auch so klingt…

Moritz konnte in dieser Situation gut ausdrücken, was ihn eigentlich beschäftigte. Die meisten Kinder in dem Alter können das noch nicht, sie nehmen es hin und geben ihr Interesse auf oder werden wütend, weil sie sich nicht verstanden fühlen. In solchen Momenten, in denen Kinder etwas machen, das wir nicht möchten oder das nicht geht, könnte es spannend sein, hinzuhören, was sie eigentlich daran fasziniert. Oft ist das etwas Anderes als wir aus unserer Sicht denken oder gerade im Sinn haben.

Ein Kind in der zweiten Klasse erzählte mir, dass sie eine Strafarbeit bekommen hatte, weil sie immer wieder aus dem Fenster schaute. Sie war wohl mehrfach ermahnt worden, „musste“ aber immer wieder schauen, weil sie draußen sah, wie Sonnenstrahlen in einem Spinnennetz voller Regentropfen so wunderschön glitzerten. Sie musste einfach schauen, sagte sie, traute sich aber nicht, das mitzuteilen – schade!

Es ist spannend, wie Kinder die Welt wahrnehmen

Es gibt so viele Missverständnisse, so viel Nichtverstandenwerden, das schmerzt. Wenn etwas wirklich nicht geht, ist es für ein Kind anders, das anzunehmen, wenn es auch in seinem Interesse gehört worden ist. Oft entstehen Missverständnisse, weil wir uns auf verschiedenen Ebenen bewegen, aneinander vorbei bewegen, ohne in Kontakt zu kommen. Weil wir in dem Moment gerade unterschiedliche Interessen oder andere Dinge im Fokus haben. Nicht nur in Grenzsituationen, eigentlich doch immer ist es spannend, wie Kinder die Welt wahrnehmen, vor allem die kleinen, die einen noch unverstellten Blick haben und noch nicht so angepasst sind.

Und wie ist es mit den ganz Kleinen, die noch gar nicht reden können? Sie haben gar nicht die Möglichkeit, uns mit Worten etwas mitzuteilen. Was sie wohl alles hören, sehen oder fühlen, das wir gar nicht wahrnehmen? Wie die Welt wohl für sie klingt?
Ich spiele seit einiger Zeit eine alte japanische Flöte, Kyotaku, auf der man den Ton mit dem Ausatem kommen lässt und diesen so entstehen lässt, wie er eben kommt, und verklingen lässt, bis er ins Nichts übergeht. Diesen Klängen, den unterschiedlichen sich ständig wandelnden Nuancen zu lauschen fasziniert mich. Mal klingen die Töne rund, klar, kraftvoll, mal leise, verhalten, fein, mal frei schwingend, tanzend, mal holprig, heiser krächzend… Und das hat natürlich auch mit mir zu tun. Ich erkenne in dem Klang Stimmungen, Schwingungen von mir, und manchmal höre ich das Feine, Andere, das letztlich ja auch in mir ist.

Die Welt jenseits der Worte und der Bedeutung

Auch die Stimmen haben ihre unterschiedlichen Färbungen. Mich fasziniert es, darauf zu lauschen. Dies bringt mich oft tiefer in Kontakt mit meinem Gegenüber. Die indische Musiktherapie spricht von einem Grundton, den jeder Mensch hat, der mit seinem Wesen in Verbindung steht. Diesen kann man auch in der Sprechstimme heraushören. Wenn wir also unseren Stimmklängen lauschen, können wir auch auf intuitive Weise damit in Kontakt kommen und auf einer tieferen Ebene etwas von unserem Gegenüber bzw. unseren Kindern wahrnehmen.

Es kann wunderbar sein, bei Säuglingen einfach nur den Klängen ihrer Laute zu lauschen, dem Brabbeln, Juchzen, Klagen, was auch immer… und in den Klangfarben ihrer Stimme etwas von ihnen zu hören. Und vielleicht auch mit Lauten zu antworten – und so in die Welt jenseits der Worte einzutauchen, die Welt jenseits der Bedeutung, die Welt des Fühlens und der Intuition.

Heutzutage werden bei immer mehr Kindern Wahrnehmungsstörungen diagnostiziert oder vermutet. Mich beschäftigt, was und wie diese Kinder wohl wahrnehmen. Sind das wirklich alles Störungen, oder nehmen sie einfach anders wahr, vielleicht wie wir es nicht können? Sind sie nicht einfach nur anders? Kleine Beispiele finde ich immer wieder, eine definitive Antwort habe ich nicht, gibt es sicher auch nicht. Aber ich denke, es ist ein Weg, diese Kinder mehr zu verstehen, wenn wir ihnen viel mehr zuhören und uns in sie einfühlen – ein Weg, der letztlich vielleicht unsere eigene Wahrnehmung und unser Weltbild, unsere Sicht der Dinge bereichern könnte.

 

Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Januar 2017