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Was brauche ich? Was brauchst du?

Was brauche ich? Was brauchst du? von Martin Leitner
Martin Leitner

Was brauche ich? Was brauchst du?

Diese beiden Fragen gehören zweifelsohne zu den ganz 
wesentlichen. Was sie eint: Sie sind bedürfnisorientiert und laden uns freundlich ein, uns auf die Suche nach unseren aktuellen Bedürfnissen zu machen – und den Antworten zu vertrauen. 

Freundlich gestellt, landen diese Fragen direkt, offen, interessiert und ohne Umschweife in unseren Herzen und fragen danach, was wir brauchen. Und wenn wir gelernt haben, sie wirklich von dem Ort aus zu beantworten, wohin sie gestellt wurden – von Herzen! – so haben wir Schlüssel in der Hand, die uns nicht nur in vielerlei Hinsicht und auf vielen Ebenen das Leben leichter machen können, nein, sie sind noch viel mehr, nämlich ein Entwicklungs- und Heilungsweg. Genau genommen handelt es sich um nur eine Frage, nur einmal nach innen und einmal nach außen, einmal an dich und einmal an jemand anderen gerichtet, zum Beispiel dein Kind. Entscheidend ist dabei, wie die Frage gehört wird, also wie wir sie verstehen und wie wir sie beantworten. 

Spüren und Lauschen

Es gibt Fragen, die auf Wissen, Konzepte oder Theorien ausgerichtet sind. Dies sind Fragen, die unter Umständen leicht zu beantworten sind, weil wir dafür einfach nur etwas zu wissen brauchen. Wie groß bin ich? Ruckzuck kann ich sagen: Einen Meter siebenundachtzig. Oder: Wie viel wiegt ein Kilo Mehl? (genauso viel wie ein Kilo Federn). Wir finden klare Antworten und dies, sofern unser Wissen ausreicht und verfügbar ist, sehr schnell. Soweit, so klar. 

Warum soll das bei der Frage „Was brauche ich?“ anders sein? Ganz einfach: Wir wissen oft nicht, was wir wirklich brauchen. Ich beziehe mich hier auf situative Ebenen, nicht auf Fragen nach Grundbedürfnissen wie Nahrung, Luft und Liebe. Ich beziehe mich auf Situationen im Alltag, in Dialogen mit unseren Kindern, mit unseren PartnerInnen, in Diskussionen mit ihnen, in Konfliktsituationen und wenn es darum geht, Entscheidungen zu finden, die zum Wohle aller Beteiligten ausfallen sollen. Und vor allem auf innere Dialoge, also jene, die wir mit uns selbst führen. 

Um in diesen Situationen die Frage „Was brauche ich?“ klar und deutlich beantworten zu können, brauchen wir Zeit, Mut, Selbstmitgefühl, Vertrauen, auch Handlung und so etwas wie Konsequenz. Lasst uns da etwas näher hinschauen:

Zeit…

… brauchen wir, weil es ein Innehalten braucht, ein tiefes In-uns-hinein-Spüren und -Lauschen. So und nur so können wir immer mehr lernen, auf die Antworten zu vertrauen. Genau das braucht, je nach Komplexität der Situation und je nachdem, wie vertraut wir mit diesem Prozess des „Was brauche ich?“-Fragenstellens sind, einfach Zeit. Manches Mal Sekunden, manches Mal Minuten, manches Mal auch viel, viel länger…

Mut…

… brauchen wir hier aus mehreren Gründen. „Moment, ich brauche einen Moment Zeit um nachzuspüren“ oder gar „…tut mir leid, aber da muss ich mal drüber schlafen“: Früher ist es mir nicht leichtgefallen, so etwas zu sagen. Alleine das braucht schon Mut. Der zweite Grund, warum wir Mut brauchen, liegt in der Radikalität des Innehaltens: Wir wissen nicht, was uns begegnet, wenn wir uns unserem Innersten zuwenden, und wir kennen die Antwort noch nicht. Wenn wir es beispielsweise einem inneren Muster entsprechend gewohnt sind, in manchen Situationen „Ja“ zu sagen und dann plötzlich innehalten und eine innere Stimme hören, die „Hey, ich will das nicht“ sagt: Dann kann es richtig unangenehm werden, denn der nächste logische Schritt wäre es, „Nein“ zu sagen. Nein! Entgegen unserer Gewohnheit. Nein! Entgegen unserer Muster. Und vor allem auch: Nein! entgegen der Gewohnheit der anderen, die ein Ja erwarten. Ja! Genau das braucht eine Menge Mut. Und wenn dieses Nein einem unserer Kinder gelten soll, vielleicht am allermeisten, denn wir wollen sie ja glücklich sehen.

Selbstmitgefühl…

… brauchen wir, weil wir, wenn wir damit beginnen, uns öfter zu fragen, was wir brauchen, an unsere Grenzen erinnert werden. An Grenzen, die wir oft überschritten haben oder die wir sogar gewohnheitsmäßig laufend überschreiten. Selbstmitgefühl brauchen wir, weil wir bemerken, dass die Antworten sehr oft mit Selbstfürsorge in Verbindung stehen und sie uns an etwas erinnern, das wir uns möglicherweise lange Zeit nicht zugestanden oder nicht getraut haben, für uns in Anspruch zu nehmen. Was, wenn du es gewohnt bist durchzurackern und plötzlich kommt da als Antwort auf die Frage „Was brauche ich in diesem Moment?“ „Pause, du brauchst eine Pause!“? Dann brauchen wir Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge, um wachsen zu können.

Handlung…

… das Tun brauchen wir deswegen, weil es mit der Antwort alleine ja oft nicht getan ist. Wenn die Antwort „Du brauchst eine Pause“ ist und du dann keine machst, bleiben deine Bedürfnisse nach durchatmen, Ruhe, Erholung und Kraft tanken unerfüllt. Auch hier brauchen wir oft Selbstmitgefühl, da es, wenn wir mit den Kindern im Supermarkt sind und das Bedürfnis nach Pause auftaucht, es schwierig sein wird, dieses sofort zu erfüllen. Wobei, und daran erinnere ich gerne, auch ein einziger tiefer Atemzug einen „Pause“-Effekt haben kann. Wenn mir aber danach ist, 20 Minuten Ruhe zu haben, geht das im Moment nicht. Allerdings kann ich diesem unerfüllten Bedürfnis Mitgefühl schenken und der Pausenstimme sagen: „Ja, stimmt, danke für die Erinnerung, es war echt viel bis hierhin, und ich brauche wirklich eine Pause, aber jetzt geht es einfach gerade nicht, ich hole sie etwas später nach. Bist du dann mit ein, zwei tieferen Atemzügen zufrieden?“ Das ist der Ausdruck von Selbstmitgefühl, den ich meine.

Konsequenz…

… brauchen wir, weil dies alles eine Praxis ist, weil es Übung braucht. Am liebsten würden wir ja eher davonlaufen, als gegen altgewohnte Muster aufzubegehren. Genau darum geht es im Kern. 

Was brauchst du?

Warum stellen wir diese Frage so selten? Haben wir Angst davor, dass die Antworten „ein Ferrari, eine Yacht oder das neue große Barbie-Set“ sein könnten? Diese Frage – und da bin ich sicher – erfüllt unseren Kindern eines der allerwichtigsten Bedürfnisse, nämlich gesehen zu sein. Alleine schon deswegen möchte ich dich ermutigen: Stelle dir und den wertvollen Menschen um dich herum diese beiden Fragen, immer und immer wieder, sei es direkt oder auch unausgesprochen. Denn wenn wir spüren „Da ist jemand, der gerade mitfühlend bei mir andockt“, reicht das oft schon aus. Es entsteht Verbindung.

Und wenn dich diese Übung anspricht: Vielleicht möchtest du dir dann als Erinnerung ein Post-it oder ein „Was brauche ich?“-Zettelchen an einen Ort kleben, auf den dein Blick öfter einmal hinfällt.

Was brauchst du jetzt?

 

Martin Leitner lebt mit seinem Sohn bei Wien. Er ist MBSR-/MBCL- Lehrer und Trainer für Gewaltfreie Kommunikation. Neben den achtsamkeitsbasierten Kursen leitet er vertiefende Jahresgruppen und begleitet Organisationen auf ihrem Weg zu mehr Achtsamkeit. Mehr zum Autor erfahren Sie auf seiner Website www.martinleitner.at

 

Dieser Text ist erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Januar 2021