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Sich entspannen, auch wenn es stürmisch ist

Sich entspannen, auch wenn es stürmisch ist: meditierende Frau
Cassandra Vieten

Sich entspannen, auch wenn es stürmisch ist

Was spüren Sie? Was hören Sie? Was ist da?

Wenn man plötzlich Mutter ist, ändert sich alles auf einen Schlag! Schwangerschaft, Geburt und die erste Zeit mit dem Kind können eine besonders schwierige, aber auch eine unglaublich befriedigende Zeit sein. Die schnellen Veränderungen in Ihrem Körper, in Ihrem Lebensstil, in Ihren Beziehungen, in Ihrer Arbeit, ja Ihres ganzen Wesens verlangen möglicherweise eine gewisse Beweglichkeit, als liefen Sie bei einem Hindernisrennen mit oder trainierten für einen Marathon. Wie gehen wir am besten mit dieser neuen Situation um?

Achtsames Muttersein bedeutet, einfach ausgedrückt, in Ihrem Körper gegenwärtig und mit Ihrem Baby verbunden zu sein, egal, was geschieht. Es bedeutet, dessen, was Sie erleben, Augenblick für Augenblick, während es geschieht, gewahr zu sein, ohne es wegzuschieben, festhalten zu wollen oder als gut oder schlecht zu bewerten. Es bedeutet, jeder Situation so zu begegnen, wie sie ist, und im Lauf der Zeit alles, was geschieht, mit Neugier und Mitgefühl anzunehmen.

Achtsames Muttersein ist eine Möglichkeit, alle Erfahrungen, denen Sie als Mutter begegnen werden, mit offenen Augen und einem offenen Herzen anzunehmen. Ob diese Erfahrungen innerer Art, wie Gedanken, Gefühle oder körperliche Empfindungen, oder äußerer Art, wie Beziehungen, Situationen am Arbeitsplatz oder in Ihrer Umgebung, sind – achtsames Muttersein bedeutet, bei dem, was geschieht, ganz gleich, was es ist, einfach da zu sein. Das mag zwar einfach klingen, jedoch fällt es den meisten von uns nicht leicht.

Seit Tagen nicht mehr als zwei Stunden Schlaf...

Nehmen wir ein Beispiel:

Es ist drei Uhr morgens und das Baby weint – ja, es schreit. Es ist die vierte Nacht, in der sie mehr als dreimal mitten in der Nacht mit dem Baby aufgestanden sind, und Sie haben seit ein paar Tagen nie mehr als zwei Stunden am Stück geschlafen. Natürlich sind Sie inzwischen ein bisschen empfindlich, überanstrengt und verärgert.

Vielleicht denken Sie in etwa so: „Warum bekomme ich das Baby nicht zum Schlafen? Alle Babys in meiner Müttergruppe schlafen nachts durch. Was stimmt mit mir nicht?“ Oder: „Was stimmt mit dem Baby nicht? Vielleicht hat es eine Kolik. O je, das heißt, dass es jetzt sechs Monate lang jede Nacht so gehen wird – das halte ich nicht aus! Ob ich ihm die Flasche geben sollte? Im Buch steht, man soll nachts keine Flasche geben, weil das Baby dann nie durchzuschlafen lernt... Und warum kommt John mir nicht helfen? Unglaublich, dass er die Nerven hat, im Bett zu bleiben und so zu tun, als hätte er das nicht gehört. Mann, warum ist es so kalt hier drinnen? Unsere Heizung funktioniert nie richtig. Um Himmels willen, hör jetzt auf zu schreien...“.

Ihr Körper wird ganz angespannt, Tränen steigen Ihnen in die Augen, Sie beißen die Zähne zusammen, Sie schaukeln das Baby auf und ab, drehen Ihren Kopf weg und klopfen dem Baby auf den Rücken.

Was geschieht hier wirklich?

Was bringt Sie aus der Fassung? Die vielen Nächte, in denen Sie geweckt wurden, die Angst, etwas falsch gemacht zu haben, die Sorge, das Baby könnte krank sein, der Ärger über die kaputte Heizung, die nie repariert wird, oder über den Partner, der Ihnen gerade keine Hilfe ist, oder die Aussicht auf viele weitere solche Nächte?

Es ist verständlich, dass all dies Sie beunruhigt. Aber fragen Sie sich noch einmal: Was geschieht hier wirklich?

Aus der Perspektive der Achtsamkeit geschieht ohne die zusätzlichen Geschichten im gegenwärtigen Augenblick einfach Folgendes:

  1. Sie sind müde.
  2. Das Baby schreit.
  3. Die Luft ist kalt.

In diesem Augenblick nehmen Sie wahr, dass Sie müde sind, dass das Baby weint und die Luft kalt ist. Diese Tatsachen sind nicht notwendigerweise gut oder schlecht – sie sind einfach da. Wenn man es so betrachtet, wird der Augenblick leichter zu bewältigen.

Gedanken lärmen in Ihrem Inneren, doch wenn Sie ihre Aufmerksamkeit einen Augenblick lang auf Ihren Atem, Ihren Körper und den gegenwärtigen Augenblick richten, ist es wahrscheinlich, dass sich Ihr Körper erst einmal entspannt.

Was spüren Sie? Was hören Sie? Was ist da?

Vielleicht finden Sie eine Decke oder schalten ein Heizgerät an. Vielleicht merken Sie, dass Sie müde sind? Was für ein Gefühl ist das? Die Muskeln sind schlapp, die Augen klein, das Herz etwas angespannt. Vielleicht fangen Sie an, Ihre Müdigkeit anzunehmen, schaukeln ein bisschen hin und her und lassen die Augen zufallen. Und das Schreien – nun, es ist dazu da, Ihre Aufmerksamkeit zu wecken, daher ist es nicht unbedingt angenehm. Doch in Wirklichkeit ist es einfach ein lautes Geräusch, das Ihr Baby macht, um eine körperliche Empfindung oder ein Gefühl auszudrücken.

Sie sind hier und hören dieses laute Geräusch. Schenken Sie ihm Interesse. Wie klingt es wirklich? Vielleicht ist es hoch und schrill. Es klingt wie der Ruf eines Habichts, der hoch oben seine Kreise zieht. Vielleicht erinnert es Sie an einen Mixer oder auch an Fingernägel auf einer Tafel. Nehmen Sie es wahr und entspannen Sie sich. Bewegen Sie sich mitten in es hinein. Gehen Sie um es herum und finden Sie heraus, was Sie sonst noch wahrnehmen. Was ist im Zimmer? Schauen Sie aus dem Fenster – die Sterne sind zu sehen. Grillen zirpen. Sie sind mit Ihrem Baby zu Hause in Sicherheit, auch wenn Sie müde sind, frieren und eine Weile etwas Schreien erleben.

Alle Erfahungen freundlich und sanft annehmen

Mit einer achtsamen Herangehensweise kann man sogar beunruhigenden Erfahrungen mit einem gewissen Maß an Akzeptanz begegnen. Und wenn Sie eine akzeptierende Haltung gegenüber dem, was Sie erfahren, annehmen, ändert sich oft Ihr ganzer Seinszustand. Selbst wenn Ihr Seinszustand erregt und beunruhigt bleibt, können Sie auch darauf mit achtsamem Gewahrsein und mit weniger von den wertenden und Sorgen auslösenden Gedanken, die Ihre innere Unruhe so oft verstärken, reagieren. Indem Sie der Situation und Ihren einhergehenden Gefühlen mit der Bereitschaft begegnen, sie so anzunehmen, wie sie sind, statt sich dagegen zu wehren oder sie krampfhaft zu ändern versuchen, können Sie sich viel unnötiges Leid ersparen.

Durch achtsames Gewahrsein werden schwierige Situationen leichter zu bewältigen, nicht weil sich irgendetwas an ihnen ändert oder weil sich Ihre Gedanken und Gefühle dazu geändert haben. Vielmehr werden sie deshalb leichter zu bewältigen, weil Sie eine neue Art lernen, mit Ihren Erlebnissen – Ihren Gedanken, Gefühlen und körperlichen Empfindungen – umzugehen: Sie nehmen sie so an, wie sie sind, und begegnen ihnen mit Freundlichkeit, Sanftheit und Anteilnahme. Wenn Sie schwierigen Situationen mit Achtsamkeit begegnen, werden Sie weniger oft aus dem Gleichgewicht gebracht. Und wenn Sie doch einmal aus dem Gleichgewicht gebracht werden, erholen Sie sich schneller davon, weil Sie gelernt haben, präsent, bewusst und mit Ihrem Baby verbunden zu bleiben, egal, was geschieht.

Erlebnisse ändern sich ständig, wie Wellen im Ozean

Warum? Erstens erkennen Sie durch achtsames Gewahrsein, dass fast alles, was Sie erleben, nur von kurzer Dauer ist, und die meisten Erlebnisse sind von sehr kurzer Dauer. Ob es ein Krampf im Rücken ist, Wehenschmerzen, das weinende Baby oder ein Konflikt mit dem Partner – Erlebnisse ändern sich ständig wie Wellen im Ozean. Fast nie halten diese Erlebnisse lange an, ja, die meisten sind sehr bald wieder vorbei – nach zehn Minuten oder höchstens einer Stunde. Gewiss gibt es auch Erlebnisse, die sehr lange anhalten, wie die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen. Die meisten Dinge jedoch, die große Mehrheit der Erlebnisse, die bei uns jeden Tag zu Stress und Leid führen, sind ausgesprochen vergänglich. Unsere Anspannung, unser Stress und unser Leid finden ihre Gründe zu einem Großteil darin, dass wir uns wünschen, das, was wir erleben, würde aufhören oder würde ewig so bleiben. Wenn man sich mit der Tatsache anfreundet, dass sich alles ständig verändert, achtet man mehr darauf, sich von den Wellen tragen zu lassen, statt gegen sie anzukämpfen oder sie beherrschen zu wollen.

Durch achtsames Gewahrsein erhöhen Sie, selbst wenn Sie Traurigkeit, Angst, Ärger oder Schuld empfinden, die Fähigkeit, präsent zu bleiben, mit Ihrem Baby in Verbindung zu bleiben, gesunde Grenzen zu setzen (für sich selbst und für Ihr Baby) und darauf einzugehen, was wirklich geschieht, statt nur auf Ihre Geschichte darüber zu reagieren. Sie neigen weniger dazu, aus reinen, normalen und natürlichen Gefühlen wie Traurigkeit, Angst oder Ärger chronische Zustände der Depression, Sorge, Wut oder Scham entstehen zu lassen. Sie sind immer besser in der Lage, im Einklang mit Ihren Werten und Zielen zu handeln und die Mutter zu sein, die Sie sein wollen. Sie können freie Entscheidungen treffen, statt in alten Verhaltensmustern gefangen zu sein.

Die Tür zu tiefer Zufriedenheit, überschwänglicher Freude, glühender Liebe und warmer Sinnlichkeit öffnen

Und ebenso wichtig wie der Umgang mit den Herausforderungen ist, dass achtsames Gewahrsein in der Schwangerschaft und ersten Zeit des Mutterseins die Tür zum Erleben tiefer Zufriedenheit, überschwänglicher Freude, glühender Liebe und warmer Sinnlichkeit öffnet. Durch diese Erfahrungen können die Aspekte der Schwangerschaft und des Mutterseins, die Freude bereiten und das Potential haben, Sie zu verwandeln, noch tiefer erlebt werden. Für diese Tiefe der Gefühle offen zu sein, kann Ihr Verständnis davon, wer Sie sind und wozu Sie fähig sind, verändern.

Wenn Sie in der Lage sind, das, was Sie im gegenwärtigen Augenblick mit Ihrem Baby erleben, ganz bewusst wahrzunehmen, ganz gleich, was geschieht, entdecken Sie Aspekte dieser Erfahrung, die Sie vorher vielleicht gar nicht bemerkt haben, weil sie ständig nachgedacht, geplant, überlegt, sich Sorgen gemacht oder gegen die weniger wünschenswerten Aspekte Ihres Erlebens angekämpft haben. Wenn Sie lernen, ganz präsent zu sein, jede Erfahrung so anzunehmen, wie sie ist, und sich sogar auf sie zu zu bewegen, wird Ihr Erleben des Mutterseins durchdrungen von diesen kleinen, transzendenten Augenblicken, durch die alle übrigen mehr als lohnend werden.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Ressourcen für Mütter.