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Selbstliebe entdecken und gut für sich sorgen

Selbstliebe entdecken und gut für sich sorgen: Blümchen
Christopher Germer

Selbstliebe entdecken und gut für sich sorgen

Wie man sich von anstrengenden Gedanken und Gefühle lösen kann

Wie können wir gut für uns sorgen und unnötige Alltagssorgen loslassen? Was brauchen wir wirklich, besonders dann, wenn wir unter großem Druck stehen, oder wenn Dinge aus dem Ruder laufen?

Die mitfühlende Reaktion wäre, innerlich sozusagen einen Schritt zurückzutreten und die Gedanken kommen und gehen zu lassen – also keinen Widerstand zu leisten. Wir wollen einen inneren Raum schaffen, wo belastende Gedanken ganz natürlich „ein und aus gehen können“.

Sich ein persönliches Mantra anschaffen

Wörtlich übersetzt bedeutet Mantra „geistiges Werkzeug“. Um von dieser Technik zu profitieren, brauchen Sie kein fremdartig klingendes Wort. Bekannte Mantras sind „Auch das geht vorbei“ und „jeden Tag für sich“. Doris Day sang das Mantra Que sera sera„Was sein wird, wird sein“.

Die Wiederholung dieser Sätze beruhigt den Geist aufgrund ihres Inhalts und der Konzentration. Immer wenn wir mit unserer Aufmerksamkeit zu einem einzelnen Wort oder Satz zurückkehren, lösen wir uns von unseren Gedanken. Manchen Menschen tut es gut, innerlich immer wieder das simple Wörtchen „Ja“ zu wiederholen. Pessimisten scheinen eine besondere Vorliebe für das Mantra „Wenn es nicht dies ist, dann ist es etwas anderes!“ zu haben.

Sie können mit Mantras experimentieren, die Ihnen helfen, mit unterschiedlichen mentalen Zuständen umzugehen. Ein Mantra, das vielen Leuten bei wichtigen Entscheidungen hilft, lautet zum Beispiel „Ich weiß nicht … ich weiß nicht … ich weiß nicht.“ Bei Schamgefühlen hilft oft das Mantra: „Das konnte ich doch nicht wissen!“ Ein humorvolles Mantra gegen die Angst vor Missbilligung ist: „Dann verklag’ mich doch!“ Experimentieren Sie auch mit Ihrer Tonlage, wenn Sie ein Mantra sprechen. „Dann verklag’ mich doch“ ist großspurig und „Das konnte ich doch nicht wissen!“ ist demütig. Versuchen Sie es auch einmal mit „Sei gut zu dir selbst“ oder „Geh’ vorsichtig mit mir um“, um Freundlichkeit für sich selbst zu wecken.

Gedanken wie Wolken im Himmel

Visualisierungsübungen können uns ebenfalls helfen, störende Gedanken loszulassen. Stellen Sie sich Ihre Gedanken beispielsweise als Blätter vor, die auf einem Fluss abwärts treiben, wobei jedes Blatt Ihre Gedanken davonträgt. Oder stellen Sie sich vor, Sie wären der Himmel und Ihre Gedanken die dahinziehenden Wolken – manche dunkel und bedrohlich, andere leicht und hell. Und alle ziehen vorbei.

Über den Tod nachzudenken ist ebenfalls eine sehr wirkungsvolle Strategie, die eigenen Gedanken etwas leichter zu nehmen. „Wie würde ich mich in Bezug auf diese Sache fühlen, wenn ich nur noch einen Monat zu leben hätte?“ Angesichts des Todes erscheinen die meisten unserer Sorgen bedeutungslos. Fragen wir uns andererseits, was uns im Leben am meisten bedeutet – das Glück unserer Kinder, gute Gesundheit, innere Zufriedenheit –, können wir die kleinen Ärgernisse loslassen.

„Armes Gehirn”

Schließlich können wir, wenn wir unter bedrückenden Gedanken leiden, auch Mitgefühl für unser Gehirn entwickeln. Unser Gehirn macht zwar nur 2 % unseres Körpergewichts aus, aber es arbeitet so hart, dass es 25 % des aufgenommenen Sauerstoffs verbraucht. Manchmal hält uns unser rastloses Gehirn nachts nur wach, um die Arbeit des Tages abzuschließen.

Ich kenne einen Arzt, der seine Tendenz zur Zwanghaftigkeit abmilderte, indem er Mitgefühl für sein überarbeitetes Gehirn entwickelte. Immer wenn er einen Zwangsgedanken hatte, sagte er: „Armes Gehirn, schon wieder so viel harte und unnötige Arbeit.“

Mit den eigenen Gefühlen Freundschaft schließen

Wie sorgen Sie auf der emotionalen Ebene für sich? Den liebevollen, mitfühlenden Weg zu wählen heißt, Freundschaft mit schmerzhaften Gefühlen zu schließen – also nicht länger gegen sie anzukämpfen. Dafür gibt es viele Worte: Empathie, Interesse, Güte, Fürsorge, Vergebung, Barmherzigkeit, Wohlwollen, Rücksichtnahme, Toleranz, Unterstützung, Akzeptanz, Verständnis, Freundlichkeit, Mitgefühl.

Die Geschichte von Brian und seiner Angst

Brian war ein Mann mittleren Alters, der sich zwanghaft um seine Gesundheit sorgte. Immer wenn ihm etwas wehtat, suchte er sofort einen Arzt auf. Um seiner Ängste Herr zu werden, erlernte Brian die Achtsamkeitsmeditation in einem örtlichen Meditationszentrum. Ich brachte ihm Selbstmitgefühls-Techniken bei. Nach ein paar Monaten steter Fortschritte (so sahen es zumindest seine Frau und ich) erklärte er mir: „Wissen Sie, eigentlich bringen mich all diese Dinge kein bisschen weiter!“ Als ich ihn fragte: „Wieso nicht?“, erwiderte er: „Ich bekomme beim geringsten Schmerz immer noch genauso viel Angst, an einer tödlichen Krankheit zu leiden, und meiner Frau hängt das alles zum Hals heraus, weil sie mir dann immer wieder bestätigen muss, dass es nicht so ist.“

Das führte zu einer wesentlich tieferen Betrachtung von Brians Ängsten woraufhin Brian sagte: „Sie meinen, ich sollte einfach zulassen, dass ich mich selbst bemitleide?” Und ich erwiderte: „Ja, das wäre ein Anfang.“ Brian war am Punkt der „kreativen Hoffnungslosigkeit“ angekommen, wie es der Psychologe Steven Hayes ausdrücken würde, und der erste Schritt zur Heilung war das liebevolle Annehmen seiner inneren Not.

Vergebung als emotionale Selbstfürsorge

Vielen von uns fällt es sehr schwer, sich zu vergeben, wenn sie einen Fehler gemacht haben. Wir sind uns selbst gegenüber oft gnadenlos. Sich selbst vergeben zu lernen kann man üben, indem man sich zum Beispiel fragt: „Was würde meine beste Freundin oder mein bester Freund dazu sagen?“ Oder: „Was würde Jesus (Buddha, Krishna) dazu sagen?“ Wenn wir die wohlwollendere Position einer anderen Person einnehmen, können wir uns aus unserem depressiven Grübeln herausholen.

Der größte Teil meines Buches Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl handelt davon, wie man schwierigen Gefühlen und sich selbst freundlicher begegnen kann. Dabei kann es hilfreich sein, sich Dinge zu gönnen, die man genießt, wie zum Beispiel:

  • Musik hören
  • Urlaub machen
  • Drachenfliegen
  • In die Kirche gehen
  • An Sex denken
  • Einen Roman lesen
  • CDs kaufen
  • Auto fahren
  • Im Garten arbeiten
  • Fahrrad fahren
  • Ins Kino gehen
  • Etwas Leckeres kochen
  • Muscheln sammeln

Dinge zu tun, die einem grundsätzlich Freude machen, anstatt solche, die sich wie Arbeit anfühlen, ist eine Möglichkeit, emotional für sich zu sorgen.

Mit anderen in Beziehung treten

Sich mit anderen Menschen zu verbinden – das heißt, sich nicht länger zu isolieren – ist eine weitere Form der Selbstfürsorge. Wir können uns auch von anderen getrennt fühlen, wenn wir nicht allein sind.

Ein Gefühl der Isolation kann selbst alltägliche Unzufriedenheit in Verzweiflung oder kleinere Ängste in große Furcht ausarten lassen. So fühlen sich oft ältere Leute, die allein leben und mit gesundheitlichen Problemen konfrontiert werden – jedes neue Symptom ist ein Anzeichen für die bevorstehende Katastrophe. Vielleicht bemerken wir zunächst gar nicht, dass unser soziales Netzwerk dünn geworden ist, weil Isolation ein „Unterlassungsfehler“ ist – ein Problem, das wir nicht sehen können. Deshalb sollten wir unseren Beziehungen besondere Aufmerksamkeit schenken.

Wie wir mit anderen in Beziehung treten, hat ebenfalls enorme Auswirkungen auf unser Lebensgefühl. Beispielsweise wird kein Mensch nachts gut schlafen, der den ganzen Tag über andere bestohlen, belogen oder betrogen hat. Ein solches Verhalten garantiert vielleicht kurzfristig das eigene Überleben, aber es trägt natürlich kaum zu unserem Wohlbefinden bei. Zunächst einmal entfremden wir uns dadurch uns selbst – wir liegen im Widerstreit mit uns selbst – und entfernen uns dadurch schließlich von anderen.

Es macht langfristig glücklich, gut zu anderen zu sein

In Beziehungen bedeutet Güte, dass unser Handeln von dem Wunsch geleitet wird, anderen zu helfen und keinen Schaden zuzufügen. Der Dalai Lama nennt das „weisen Egoismus“, weil andere dadurch angeregt werden, ebenfalls gut zu uns zu sein. Auch die Erinnerung an eine freundliche Begegnung kann uns lange Zeit glücklich machen.

Ich erinnere mich an eine Geschichte über ein neunjähriges Mädchen namens Shanti aus einer reichen Familie in Mumbai, Indien. An ihrem Geburtstag spazierte Shanti mit ihrem Vater am Strand entlang. Dort sind immer arme Leute unterwegs, die betteln oder für Geld Zaubertricks vorführen. Shanti bat ihren Vater, ihr etwas zum Naschen zu kaufen – ein Eis –, denn es war ja ihr Geburtstag. Der Vater war einverstanden. Als sie auf den Eiscremestand zusteuerten, flehte ein Bettler um ein Almosen. Daraufhin bat Shanti ihren Vater, dem Bettler Geld zu geben. Ihr Vater stellte sie vor die Wahl: das Geld entweder für ein Eis auszugeben oder dem Bettler zu schenken. Shanti dachte einen Augenblick nach und bat dann ihren Vater, dem Fremden zu helfen. Als der Vater Shanti an diesem Abend zu Bett brachte, sagte sie treuherzig zu ihm: „Weißt du, dem Bettler zu helfen war für mich heute das Schönste!“ Sie hatte also schon sehr früh entdeckt, dass es langfristig glücklich macht, gut zu anderen zu sein.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl.

Weiteres Material

Selbstmitgefühl – Das Übungsbuch

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