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Ängste erleben – Ängste bestehen

Joachim Armbrust: Ängste erleben – Ängste bestehen
Joachim Armbrust

Ängste erleben – Ängste bestehen

Über die Kindliche Angst gerade auch in angstvollen Zeiten

Jeder Entwicklungsschritt, speziell in der Kindheit, wird begleitet von Angst. Allzu oft versuchen wir – die Erwachsenen – Kinder vor Situationen zu schützen, die ihnen Angst machen. Nicht selten wollen wir uns sogar selbst weismachen, dass die kindliche Welt voller Glück ist und Angst(-momente) nicht kennt. Gefühle der Angst zu meiden, nicht zuzulassen oder sie den Kindern gar auszureden, führt jedoch nicht dazu, Angst als natürliche Emotion kennen und mit ihr umgehen zu lernen. 

Noch differenzierter zu betrachten sind die Auswirkungen, die gesellschaftlich ausgelöste Ängste bei Kindern haben, gleich, ob es sich nun um Corona und die damit verbundenen Ängste/Panikwellen oder um den Konflikt zwischen Russland und Ukraine handelt. Die Angstüberflutung der Erwachsenen schwingt im Feld der Kinder unverstanden mit und sucht auch dort ihren Ausdruck und ihre Bewältigung. Deshalb lohnt es sich für die Kinder, aber auch für uns Erwachsene, die wir alle auch einmal Kinder waren, sich mit den kindlichen Ängsten zu beschäftigen.


Fang einfach an, mach den ersten Schritt

Kinder lieben Märchen – gerade auch deshalb, weil fast alle Märchen von Angst handeln, ohne sie direkt anzusprechen. Dass Angst zum Menschsein gehört und den Menschen erst menschlich macht, wissen die Märchen von alters her, und das drückt sich nicht nur in jenem Märchen aus, in dem einer auszieht, das Fürchten zu lernen. Deshalb können wir mit einem Blick auf Märchen auch viel über Angst und Angstbewältigung verstehen lernen.

Fast jedes Märchen handelt von etwas, das den Fortgang des Lebens bedroht oder jedenfalls Befindlichkeit und Ordnung durcheinanderbringt – meistens dargestellt in der Ausgangssituation des Märchens –, und es zeigt, welcher Entwicklungsweg aus diesem Problem und der damit verbundenen Angst heraus- und in eine neue Lebenssituation hineinführen könnte. Genaueres können wir aber erst erfahren, wenn wir uns mit dem Märchenhelden/der Märchenheldin auf den Weg machen. Wir wissen alle, dass dieser Entwicklungsweg jeweils auch noch Umwege, Gefahren oder Scheitern in sich birgt. Das sind – jetzt übersetzt – Gefahren, die den uns anvertrauten Kindern auf ihren Entwicklungswegen genauso drohen wie den Helden im Märchen. Sie betrachten den Helden im Märchen quasi als Modellfigur, der durch sein Verhalten eine Problemsituation aushält und den Weg beschreitet, der nötig ist, um das Problem zu lösen und seine Angst zu bewältigen.

Die Märchen sagen unausgesprochen: „Fang einfach an, mach den ersten Schritt, alles andere wird sich weisen.“ Sie sagen weiter: „Trau dir was zu! Sei wahrnehmungsstark, höre auf deine Instinkte, auf die natürlichen Kräfte in dir und lass dich von ihnen führen. Bleibe offen für die Zeichen, die das Leben dir gibt.“ Und: „Bleibe dir und deinen Werten treu, dann kann dich nichts wirklich erschüttern.“


Ängste wollen erlebt und bestanden werden

Wer also als Erwachsener die Botschaften der Märchen versteht, ist auch in der Lage, der kindlichen Angst ein hilfreicher Begleiter zu sein. Im Übrigen strahlen die Märchen immer Zuversicht aus und bleiben im Vertrauen aufs Leben. Und indem aus einem Prinzen oder einer Prinzessin ein König oder eine Königin wird, besiegelt das Märchen auch, dass sich hier ein unübersehbarer Entwicklungsschritt, eine persönliche Reifung vollzogen hat. „Am Ende wird alles gut“, ist doch eine sehr tröstliche Botschaft und macht Mut, in den Zwischenräumen der Verzweiflung nicht aufzugeben, sondern dranzubleiben. 

Ängste wollen demnach erlebt und bestanden werden. Zum Bestehen der Angst gehört das Standhalten, aber ebenso der Mut zur Erprobung. Mit der Angst umgehen lernen bedeutet, sich ihr zu stellen, ihr standzuhalten, sie zu fühlen, sie verstehen zu lernen, sie zu berücksichtigen und sie führen und besänftigen zu lernen.

Strategien der Angstbewältigung kennen und anwenden zu lernen ist wiederum Teilaufgabe der emotionalen und sozialen Entwicklung jeden Kindes und jedes Menschen. Die Angst ist ein Gefühl von vielen Gefühlen, die es alle kennen zu lernen gilt. Wenn wir es uns erlauben, dass wir unsere Gefühle wahrnehmen und anerkennen, erfahren wir Grundlegendes über uns selbst. Wenn wir unseren Gefühlen einen Raum der wachen Aufmerksamkeit schenken, können wir erfahren, dass sich über die Gefühle innerlich erlebte Befindlichkeitszustände und damit verbundene (Entwicklungs-)Aufgaben ausdrücken.


Kinder bewältigen ihre Angst

Ängste entstehen immer und überall. Entwicklung und Reifung haben viel zu tun mit Angstüberwindung. Sind die Entwicklungsbewegungen zu groß – handelt es sich um regelrechte Anforderungssprünge –, wird natürlich auch die Angst des Kindes größer. Angsterleben findet grundsätzlich seine individuelle Ausprägung bei jedem Kind. Es gibt im Hinblick auf Angst kein idealtypisches Durchschnittskind, das wir zum Maßstab für andere Kinder machen könnten.

Jedes Kind bringt sein eigenes Wesen, seinen eigenen Wesensklang mit auf diese Welt. Daran gebunden sind auch ganz individuelle Gefühlserlebnisbahnen, die mit keinem anderen Kind identisch sind und auch nicht miteinander verglichen werden sollten. Auch die Intensität ausgelöster Angsterregung kann sehr unterschiedlich sein, und selbst wenn das Angstniveau ähnliche Angstspitzen erreicht, kann das je nach kindlicher Persönlichkeit wiederum ganz unterschiedlich in die Gesamtidentität eingeordnet werden. Wir als begleitende Erwachsene, die wir uns als Handlungsvorbild und als Gegenüber für die Angstbewältigung zur Verfügung stellen, sind die wichtigste „Didaktik“.


Ein Gefühl von vielen Gefühlen

Gefühle gehören zur Grundausstattung des Menschen. Die Angst ist ein Gefühl von vielen Gefühlen. Angst zu empfinden ist wichtig, Angst macht uns wach für den Augenblick, weckt unsere Kräfte, schüttet Energie aus und macht uns stark. Angst ist Ausdruck dafür, dass sich unser Frühwarnsystem angeschaltet hat. Etwas bedroht uns oder fehlt uns, unser Organismus macht uns darauf aufmerksam. Angst kann sich nur verwandeln, wenn sie erkannt, angenommen und anerkannt wird. Damit dies gelingen kann, braucht die Angst Verständnis, Geduld und vor allen Dingen Zeit. Alle drei Güter sind in unserer Welt Luxusgüter, die als Ressourcen oft nicht vorhanden sind. Das führt dazu, dass Angst oft unterdrückt wird, anstatt als Anstoß, für sich zu sorgen, verstanden wird.

Die Dimensionen, die unsere Angstgefühle auslösen, hängen stark davon ab, wie wir eine Situation subjektiv im Kontext unserer vorhandenen Ressourcen beurteilen. Gut, wenn es uns gelingt, die wahrgenommene Bedrohung in eine Herausforderung umzudeuten. Wenn wir uns der Angst öffnen, sie annehmen, hinhören, sie ernst nehmen und sie einbeziehen in das eigene Handeln, dann spricht die Angst in Bildern, sie wird vertraut, man lernt sie zu verstehen, kann auf sie eingehen (zunehmend besser), man lernt sie zu besänftigen, sie an die Hand zu nehmen. Die Angst wird nicht statisch, sie kommt und geht, sie bindet sich an auslösende Situationen und kann deshalb bewältigt werdenn

Wenn wir die Angst verdrängen, verleugnen, verschieben, wegsperren oder zudecken, dann verfestigen sich unsere Angstzustände. Es entsteht lähmende Angst, inflationierende Angst. Die Angst verselbstständigt sich. Der Kontakt zur Angstursache geht eventuell verloren, es kommt zu Angstkrankheiten und zu Angststörungen. Wir bekommen Angst vor der Angst und geraten schließlich in kopflose Panik.


Kinder sind ihre Angst, Erwachsene haben Angst

Darin drückt sich aus, dass der Erwachsene viele Erfahrungen mit Angst bewältigt hat und Strategien des Umgangs entwickelt hat, deshalb kann er meistens zu seiner Angst ein distanziertes und sachliches Verhältnis einnehmen und mit seiner Angst umgehen. Er kann sie vorläufig wegschließen, sie später wieder hervorholen, er kann ihr Mut zusprechen, er kann ihr auf den Grund gehen, er kann ihr einen Platz zuweisen usw. Das Kind kann das alles noch nicht, es braucht ein Handlungsvorbild, das es in der Angst tröstet und hält, das zeigt, wie es geht, mit der Angst umzugehen, und es braucht den Erwachsenen, der ihm dabei hilft, seine Angst zu versprachlichen und damit (be-)greifbar zu machen. Dazu muss der Erwachsene kindliche Bedürfnisse kennen. Kinder sprechen zu uns oft in Bildern, wenn sie von ihrer Angst sprechen. Wenn wir diese Bilder an der Realität messen, neigen wir oft dazu zu sagen: „Das gibt es doch gar nicht.“ Doch ihre Angstbilder haben in der Tiefe Auslöser, die es zu entdecken gilt.


Wahrnehmung unterschiedlicher Aspekte von kindlicher Angst

Wurzeln der Angst können sein:

  • Situativ durch Bedrohung ausgelöste Ängste

Plötzlich ist die Mutter nicht mehr im Gesichtsfeld des Kindes und es fühlt sich verloren; ein größeres Kind macht ihm Angst und bedroht es; die geliebte Erzieherin schimpft mit dem Kind und das Kind kann vor lauter Angst kaum standhalten, weil es das von zu Hause nicht kennt usw.

Entwicklungsbedingte Ängste
Entwicklung bedeutet immer Autonomiezugewinn, aber auch Angst davor, den nächsten anstehenden Schritt, die Entwicklungsherausforderung, nicht zu schaffen. Das drücken Kinder in Bildern aus, in Angst vor Monstern, Angst vor Spinnen, Angst vor dem Gang auf die Toilette usw.

 

  • Angst, die sich aus Lebenssituationen ergibt

Die Geburt eines Geschwisterkindes, die Trennung der Eltern, der Beginn der Kita oder der Schule, oder auch so etwas wie das „nicht fassbare“ Coronavirus, das das Kind zur potenziellen Bedrohung für die Oma werden lässt…

 

  • Erziehungsbedingte Ängste

Das Erziehungsverhalten der Eltern ist zu streng oder zu bedrohlich in der Grenzsetzung; keine Begrenzung zu setzen, alles zuzulassen kann dem Kind aber auch ein Gefühl von Verlorensein geben und ihm Angst machen.

 

  • Imitationsängste

Wenn die Eltern selbst ein leicht zu initiierendes und hohes Angsterregungsniveau haben, kann es sein, dass die Kinder sich die gleichen Erlebnismuster „abschauen“ und die Eltern so instinktiv mit ihrem Verhalten imitieren.

 

  • Menschheitsgeschichtlich bedingte Ängste

In der Tierwelt ist ein Junges ohne Herde oder ohne Tiermutter verloren, in der Menschenwelt ist das ähnlich; ein Kind reagiert unter Umständen instinktiv aus solchen Überlebensängsten heraus beim Verlassen seiner Familie und muss erst erfahren, dass im Zusammenhang mit Nachbarn, befreundeten Familien oder in der Kita andere Menschen verantwortlich da sind und sich um es kümmern.

 

  • Durch Erfahrung bedingte Ängste

Vielleicht hat das Kind schon einmal eine heiße Herdplatte angefasst oder es ist auf einer Mauer balanciert und heruntergefallen. Vielleicht hat es deshalb vorläufig das Zutrauen in sich verloren und die jeweilige Situation mit vermeidender Angst aufgeladen.

 

  • Beziehungsstörungen erzeugen Angst

Ein Elternteil ist nicht verlässlich, wechselt zwischen Hass und überschüttender Liebe; ein Elternteil wird als nicht berechenbar bzw. fremd-artig erlebt wegen fortgesetztem Alkoholkonsum; ein Elternteil ist nicht erreichbar und ansprechbar, weil es sich vielleicht in einer depressiven Episode befindet. Das führt zu grundlegenden Beziehungsstörungen zwischen Eltern und Kind. Wacht ein Kind auf und niemand ist da, kann das zu einer vorübergehenden Beziehungsstörung führen.

 

  • Körperbedingte Ängste

Ein Kind reagiert auf Alltagsspannungen mit Blasendruck und macht deshalb öfter in die Hose, es entwickelt Angst davor, dass sich das wiederholt. Ein Kind besitzt eine disharmonische Körperkoordination und ein labiles Körperbewusstsein und meidet deshalb vielerlei Bewegungsspiele.

 

Wie können Eltern ihren Kindern helfen?

Wodurch die Ängste Ihrer Kinder auch ausgelöst sein mögen, nehmen Sie sie ernst und helfen Sie Ihrem Kind bei der Bewältigung.

Sie werden überrascht sein, wie kreativ Kinder sind, wenn es darum geht, Lösungen und Rituale gegen die Angst zu finden. Die meisten Monster und Gespenster lassen sich spielerisch verjagen: durch Talismane, Glückssteine und andere Kraftspender, indem man sie malt oder im Puppen-/Rollenspiel darstellt und erlegt. Die gemeinen Ungeheuer zu malen, zu spielen und danach über sie zu reden hilft fast immer, ihnen etwas von ihrer Bedrohlichkeit zu nehmen. Helfen Sie Ihrem Kind, die gebastelten oder ins Bild gebannten „Angstmacher“ zu vergraben, zu zerreißen oder in die Luft zu schicken, es gibt unzählige Möglichkeiten.

Wenn Ihr Kind Liebe, Geborgenheit und Sicherheit bei Ihnen erfährt, haben Sie ihm schon sehr geholfen. Stärken Sie sein Selbstbewusstsein, trauen sie ihm die Bewältigung zu, dann ist für viele Ängste gar kein Platz mehr.


Joachim Armbrust ist Diplomsozialpädagoge und Familienberater in eigener Praxis für Psychotherapie, Paartherapie, Supervision, Coaching und Mediation in Schwäbisch Hall und lehrt an der dualen Hochschule für Sozialpädagogik in Stuttgart. In seinem Institut „Punkt-Genau-Seminare“ bietet er seit 25 Jahren Ausbildungen zur Systemischen Berater:in an. Seit 30 Jahren ist er in der Fort- und Weiterbildung im elementarpädagogischen Bereich tätig. Mehr über den Autor und seine Arbeit findet ihr unter:  www.Punkt-Genau-Seminare.de 

 

Dieser Text ist erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Oktober 2022