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„Fragen, die noch gestellt werden wollen“

Matthias Epperlein-Trümner: „Fragen, die noch gestellt werden wollen“
Matthias Epperlein-Trümner

„Fragen, die noch gestellt werden wollen“

Sich in Verbundenheit gefühlt fühlen – Enkel, Kinder, Eltern und Großeltern

Das Gespräch meiner viereinhalbjährigen Enkelin Lilith mit ihrer Mutter, unserer Tochter, auf dem Sofa höre ich wie nebenbei, merke erst später, wie bedeutsam es für mich sein kann: „Mama, wie lange kennt mich Opa eigentlich schon?“ „Nun, fast so lange wie du hier auf der Welt bist.“ „Und was war vorher?“

Meine Enkelin fühlt sich wohl mit uns als Großeltern, da sie sich gesehen und ermutigt fühlt im Sein, im Spiel und an Gesprächen, die am Wesen der Dinge interessiert sind. Vielleicht besser gesagt: In der kleinen Vergewisserung mit ihrer Mama drückt sie aus, wie sie uns als Gegenüber schätzt und sich im besten Fall gefühlt fühlt.

Sich gefühlt fühlen in Verbundenheit 

Das ist ein Segen für Familiensysteme in unterschiedlichen Generationen. Insofern ein Segen, als dass sich alle Beteiligten in ihrem Kern verbinden. Innige Momente.

Ich erinnere mich an meinen Opa, den ich als Fünfjähriger fragte „Warum hast du keine Angst vor dem Hahn, wenn du die Eier aus dem Stall holst?“– Seine Antwort erinnere ich nicht, aber den Nachsatz „…das wirst du auch lernen!“ 

So möchte ich hier meinen Blick lenken auf die Chance des generationsübergreifenden Raumes, der im verbindenden Gespräch entstehen kann. Es geht darum, uns dem Wertvollen zuzuwenden, in einen fragenden und offenen Raum einzutreten, und dies im Blick auf die Vorangegangenen und Vorangehenden. 

Dass unsere Aufmerksamkeit in erster Linie meist voll auf unsere Kinder gerichtet ist, macht Sinn. Wir schauen nach vorne, helfen, ermutigen und unterstützen. Und gleichzeitig ist es wertvoll, den Blick auf das Vergangene zu richten. Uns ist eine Generation, sind unsere Eltern und Großeltern vorrausgegangen. Dem lohnt es sich zuzuwenden.

Ja, aber was war eigentlich vorher? 

Wie geben wir den Sinn des eigenen und kollektiven Lebens von einer an die andere Generation weiter? Eine Welt, die sich aus der Sicht aller Beteiligten sehr schnell verändert, verleitet dazu, Gespräche über unsere Krisen, Wachstumsbedürfnisse und Wachstumsschritte in den Hintergrund schieben. Die menschliche Erfahrung des Umgangs mit den Herausforderungen des Lebens möchte aber geteilt werden. Jede Erfahrung, die des Leids und auch der Stärke und des Glücks, ist freilich erst vollständig, wenn sie geteilt wird.

Wie schnell aber geschieht es, dass wir uns in den Anforderungen des Alltags zu verlieren scheinen. Genau in dieser Suchbewegung und verstärkt durch Corona-Herausforderungen und Krieg in Europa können Kontakte verarmen. Wir haben Sorge und müssen den Umgang mit Ängsten und Bedrohung lernen. 

So mag für jüngere Menschen ein Gefühl entstehen, dass die Welt, in der sie leben, ganz und gar verschieden von der Welt der Eltern und Großeltern ist, dieser gar fremd erscheinen mag. Und das ist ja tatsächlich auch so. „Die Welt, in der ich lebe, ist vollständig anders, als die Welt, in der ihr lebt“ mag auf beiden Seiten ein Gefühl des Schmerzes mit sich bringen. So wertvoll der Blick nach vorne ist, so wertvoll ist ebenso der Blick auf die Vorangegangenen. Und dies auch, wenn im Moment jüngere Generationen Vorangehende werden.

Lernen Generationen voneinander? 

Wie geht dies, wenn wir Ratschläge vermeiden, wissend, dass wir uns im schnellen Einordnen und Bewerten beidseitig verengen? Wie können wir uns gerade auch mit nahen Menschen, mit Eltern und Großeltern öffnen im Lauschen, neugierig und zugewandt? 

Wir Menschen gehören nun einfach zusammen und können dies im Miteinander-Sein sichern, indem wir den Raum öffnen und betreten, der uns das Umeinander-Wissen schenkt. 

Für dieses bereichernde Lernen der tiefen Bedeutung des „WIR“ benötigt es beide Seiten. Kommunikation kann Brücken überwinden. Kommunikation ist im wahrsten Sinne eine Einladung in den geteilten Raum. Dieser sollte im besten Fall wertungsfrei sein. Die erste Absicht des hinhörenden Gesprächs ist nicht, den anderen (meist vorschnell geäußert) zu verstehen. Sondern die Absicht, mit ihm eine Verbundenheit einzugehen. Unser Gegenüber kann sich gesehen fühlen und der Beginn von Nähe und Versöhnung wird geschenkt.

Eine Fähigkeit, die Resilienz genannt wird

In diesen Überlegungen hier bin ich sowohl persönlich inspiriert durch den Kontakt mit unseren Kindern und Enkeln, als auch durch meine Erfahrung in Projekten in der Erwachsenenbildung. In diesem Jahr bat ich eine Lerngemeinschaft an einer Fachschule für Erzieher:innen, Gespräche mit Eltern und Großeltern zu führen und sie zu fragen: „Kannst du mir bitte etwas erzählen zu dem, was dich stark gemacht hat, Krisen und Herausforderungen des Lebens zu ertragen und zu überwinden? Welche Stärke würdest du mir gerne weitergeben?“. Es ging also um die Frage nach den Widerstandskräften den kränkenden und belastenden Erfahrungen gegenüber, eine Fähigkeit, die Resilienz genannt wird.

Die fragende, interessierte Haltung öffnet den Prozess des Verstehens, den des Offenseins und Hinhörens, Nachfragens und Sichhineinversetzens, so gut es eben geht. Respekt und Gleichwürdigkeit ist die Absicht. 

 „Welche Fragen willst du mit Mut fragen, den es benötigt für die Offenheit gegenüber der berührenden Antwort?“ oder auch: „Welche Fragen hättest du gerne noch deinen Eltern und Großeltern gestellt?“.

Die Wirkung der Gespräche war stets Erleichterung und Vergewisserung der eigenen Wurzeln, ohne alles gut zu finden, wie die Eltern und Großeltern im Leben gehandelt haben. In diesen Begegnungen flossen häufig Tränen, wurde zwischen Eltern und Kindern Neues mitgeteilt, was bisher verschwiegen war. Und stets konnte Dankbarkeit dafür ausgesprochen werden, dass die Vorangehenden das Leben mit ermöglicht haben – für ihre Kinder, Geschwister und Enkelkinder. Gleichzeitig entdeckten beinahe alle, dass sie durch das Gespräch in die eigene Generationenreihe stellen und dadurch ihre eigene Kraft neu spüren konnten. Alle Beteiligten fühlten sich gefühlt. 

Wenn mich Menschen fragen: „Wie soll ich mit meinen Eltern umgehen?“, dann kann ich aus meiner Erfahrung heraus sagen: „Frage sie mit Respekt und offenem Interesse. Und liebe deine Fragen!“ 

Vielleicht tauchen auch beim Lesen die Fragen auf „Wen würde ich gerne fragen?“, „Was möchte noch ausgesprochen oder mitgeteilt werden?“ und möglicherweise auch „Was würde ich gerne von meinen Kindern gefragt werden, wenn diese als Jugendliche und Erwachsene vor den eigenen Herausforderungen stehen?“ 

Die ausführliche Darstellung des Projektes und Wiedergabe der 20 Interviews sind zu finden in seinem Buch "Fragen, die noch gestellt werden wollen. Gespräche mit Eltern und Großeltern - Resilienzgeschichten, die das Leben schreibt".

 

Matthias Epperlein-Trümner, geboren 1954, Vater von vier Kindern, wohnt mit seiner Frau in Nordhessen. Er ist Berater, Supervisor und Dozent für Sozial- und Heilpädagogik.

Mehr über den Autor erfahren Sie auf seiner Website: www.matthias-epperlein-truemner.de

 

 

Dieser Text ist erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Juli 2022