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In der letzten Träne

Julia Süssmann: In der letzten Träne
Julia Süssmann

In der letzten Träne

Ach, du Schreck: Der Wunsch, unseren Kindern den Schmerz sofort wegzunehmen, ist verständlich. Dabei geht es auch um die eigene Angst – und wichtige kleine Momente der Achtsamkeit.


Ich erinnere mich immer wieder gerne an ein Erlebnis mit meinem damals neunjährigen Sohn. Er hatte es sich auf der Couch bequem gemacht und ein Spiel auf seinem Smartphone zu spielen begonnen. Ich hatte noch einen Online-Termin mit einer Patientin. Als ich an ihm vorkam, um in mein Büro zu gehen, bemerkte ich, dass er ganz erschrocken auf den Bildschirm starrte. Ich wollte wissen, ob alles in Ordnung sei, und er antwortete, ohne mich anzusehen: „Ich habe gerade irgendwie mein allerliebstes Pokemon verloren!“ Ich habe ihm gesagt, dass mir das sehr leidtut, und ihm erklärt, dass ich jetzt eine Stunde arbeiten gehen muss und erst danach bei ihm sein kann. Er hat genickt und ich bin gegangen. Nachdem ich meine Patientin begrüßt hatte, habe ich meinen Sohn leise durch die Wand weinen und schluchzen hören. Ich war mir sehr sicher, dass ich ihn damit allein lassen kann, sodass ich mich gut auf meine Patientin konzentrieren konnte. Als er nach einer halben Stunde immer noch laut geweint und geschluchzt hat, bin ich aber doch unruhig geworden. Und so habe ich meiner sehr verständnisvollen Patientin meine Situation erklärt und die Stunde kurz unterbrochen, um nach ihm zu sehen. 

Ich habe ihn ruhig gefragt, ob er noch gut allein sein kann. Er hat weitergeweint, geschluchzt und genickt. Ich war wieder beruhigt, sodass ich gut weiterarbeiten konnte. Erst ganz am Ende der Stunde wurde es im Nebenzimmer ruhig. Als ich dann zu ihm ging, war er gerade dabei, sich Schere, Klebstoff und Papier zusammenzusuchen, um etwas zu basteln. Seine Wangen waren gerötet und er wirkte ganz ruhig. Als ich ihn gefragt habe, wie es ihm geht, hat er mich mit ganz viel Offenheit angelächelt und gesagt: „Jetzt wieder gut!“ Ich habe ihn gefragt, ob er das Pokemon zurückbekommen hat. Und er hat ganz zufrieden geantwortet: „Nein, das Pokemon ist weg. Und ich kann es nicht wieder zurückbekommen. Vielleicht später mal, zufällig!“ Ich habe gespürt, dass die Sache für ihn erledigt ist.

„Ist ja nichts passiert (?)“

Meine Mutter hat mir oft Schokolade gegeben und mir erklärt, dass nichts passiert sei, wenn ich mich verletzt oder erschreckt habe. Sie hat versucht, mich abzulenken. Ich habe ihre eigene Aufregung dabei immer sehr deutlich gespürt und war oft erleichtert, wenn sie losgestürmt ist, um die Schokolade zu holen. Der Wunsch, unseren Kindern den Schmerz sofort wegzunehmen, ist verständlich. Es ist keine böse Absicht, wenn Eltern in solchen Situationen zu ihren Kindern Sätze wie „Wie ist das denn passiert?“ oder „Ist ja nix passiert!“ sagen, wenn sie versuchen, sie abzulenken, und unbedingt irgendetwas tun wollen. Ich habe das so oft beobachtet und war immer wieder gerührt von der guten Absicht der Eltern und dem Bemühen der Kinder, die Energie, die der Schreck in ihren Körpern generiert hat, zu verbergen und in sich festzuhalten. 

Ich bin Peter Levine und Maggie Kline sehr dankbar, dass sie zusammen das kleine Buch „Verwundete Kinderseelen heilen“ geschrieben haben. Sie haben mir geholfen, zu verstehen, was unsere Kinder in solchen Schreckmomenten wirklich von uns brauchen und warum. Kinder brauchen dann vor allem die Gegenwart eines ruhigen, zentrierten Erwachsenen, der weiß, was zu tun ist, und die Führung übernimmt. Dazu ist es wichtig, zunächst das Ausmaß der eigenen Angst und Betroffenheit wahrzunehmen. Es geht also einmal mehr um diesen kleinen Moment der Achtsamkeit. Wir dürfen in solchen Situationen erst mal einen tiefen Atemzug nehmen und uns selbst einen sicheren Boden schaffen. Und wenn wir uns diesen sicheren Boden geschaffen haben, ist es ganz einfach: Wir dürfen einfach bei dem Kind sein und ihm durch unsere Anwesenheit die Botschaft übermitteln: „Ich bin da, du bist jetzt in Sicherheit!“. 

Den Impulsen (an)vertrauen

Wenn wir uns durch was auch immer sehr erschrecken, wird in kurzer Zeit eine enorme Menge an Energie im Körper generiert. Dieser Energieüberschuss muss wieder aus dem Körper fließen dürfen, damit wir uns regulieren und in einen entspannten Zustand zurückkehren können. Unser Körper kann das und sorgt automatisch für diese Entladung, wenn wir ihm Zeit und einen sicheren Raum schenken und uns seinen Impulsen anvertrauen, anstatt sie zu unterdrücken. 

Kinder müssen erst lernen, sich diesen sicheren Raum selbst zur Verfügung zu stellen. Solange sie das nicht können, müssen wir ihnen unseren Raum „leihen“, sodass sie bei uns „Zuflucht“ nehmen können. Wir können uns diesen sicheren Raum auch als innere Qualität vorstellen. Wenn wir mit dieser Qualität in Kontakt sind, können sich unsere Kinder über uns mit dieser Qualität verbinden. Wir müssen dazu gar nichts tun. Wir können einfach neben unseren Kindern sitzen, ihnen vielleicht eine Hand auf den Rücken legen und sie unsere Ruhe und Sicherheit spüren lassen. 

Dann können wir unsere Kinder auch ermutigen, ihre körperlichen Reaktionen nicht zu stören. Häufig beginnen die Kinder dann zu zittern, zu weinen oder zu schluchzen, um die überschüssige Energie wieder loszuwerden. Wir können beispielsweise auch Sätze zu ihnen sagen wie: „Es ist gut, all das abzuschütteln!“, „Es ist gut, dass du weinst!“, „Lass das Zittern einfach geschehen!“, „Lass die Tränen einfach fließen!“ oder „Ja, so ist es gut!“. 

Den Raum des Kindes schützen

Wenn das Kind sich verletzt hat, können wir es auch mit ruhiger Stimme daran erinnern, dass es jetzt vorbei ist, dass es jetzt sicher ist. Und wir können es fragen, wie es sich in seinem Körper fühlt und ob ihm etwas wehtut. In seinen Füßen oder Beinen? In seinem Bauch? In der Brust oder dem Rücken? In seinen Armen oder Händen? In seinem Kopf? Wir können uns dabei viel Zeit lassen und wirklich ein, zwei Minuten Pause zwischen den Fragen vergehen lassen. So kann das Kind sich in Ruhe in seinem Körper orientieren.

Falls neugierige Geschwister kommen oder Freunde, können wir den Raum des Kindes schützen, indem wir ihnen sagen, dass das Kind jetzt einen Moment Ruhe braucht. Wir können ruhig sagen: „Nicht jetzt, wir können darüber sprechen, wenn deine Schwester sich etwas ausgeruht hat.“ Geschwister können so auch lernen, sich gegenseitig diesen Raum zu schenken und unterstützende Worte zu finden, die diesen Verarbeitungsprozess nicht stören.

„Nur ein wenig zu weinen nützt nichts“ 

Das ist also unsere Aufgabe in diesen Schreckmomenten. Wir dürfen uns neben unserem Kind entspannen, einfach da sein und es ermutigen, diese körperlichen Reaktionen geschehen zu lassen! Die Stressempfindungen des Kindes hören von selbst auf, wenn der Körper sich reguliert hat. Oft atmet das Kind dann spontan tief ein und aus, es hört auf zu weinen oder zu zittern, es gähnt, lächelt, stellt Blickkontakt her oder bricht ihn ab. Und wenn das Interesse daran, was in der Umgebung ist, zurückkehrt, wissen wir, dass das Kind für den Moment mit dem Verarbeitungsprozess abgeschlossen hat. 

Ich erinnere mich sehr gerne an all diese Momente, in denen ich neben meinen Kindern oder deren Freunden saß und sie so begleitet habe. Es waren immer sehr innige Momente, und es war spürbar, dass es genau diese Momente sind, die diese erdenden Qualitäten wie Vertrauen und Sicherheit haben wachsen lassen. In mir und in den Kindern. 

Die Geschichte, die ich an diesem Tag erleben durfte, geht noch weiter. Mein Sohn hat mich abends gefragt, ob er bei mir schlafen darf. Ich war müde, wollte früh schlafen gehen und im Bett noch etwas lesen. Ich habe mich gefreut, dass er sich holt, was er braucht, und „Ja“ gesagt. So haben wir uns gemeinsam hingelegt und jeder von uns hatte ein Buch dabei. Er wollte, dass ich ihm das Buch, das er mitgebracht hat, vorlese. Ich hatte mich aber schon sehr auf mein Buch gefreut. Ich habe die Angewohnheit, Bücher aus dem Regal zu greifen und irgendwo aufzuschlagen. Daher habe ich ihm vorgeschlagen, dass ich mein Buch jetzt einfach irgendwo aufschlage und ihm daraus ein oder zwei Seiten vorlese und dass ich ihm danach sein Buch vorlese. Er war einverstanden. Ich habe das Buch aufgeschlagen und Folgendes vorgelesen:

„Nur ein wenig zu weinen, nützt nichts. 
Du musst weinen, bis dein Kissen 
durchnässt ist!
Dann kannst du aufstehen und lachen,
unter die Dusche gehen und plantschen!
Dann kannst du dein Fenster aufreißen und lachen. 
Und falls jemand ruft: „He, was ist da oben los?“ 
kannst du lachend erwidern: 
‚In der letzten Träne verbarg sich das Glück!
Ich habe sie geweint! Ha-ha.“

Galway Kinnel, Crying 
(Stephen Cope, Yoga, Arbor Verlag, Freiburg 2013)

Mein Sohn und ich haben uns angesehen. Er hat gelächelt, genickt und gesagt: „Ja, Mama!“ Das war ein wunderschöner Moment für mich. 
Ich wünsche allen Menschen, die Kinder ins Leben begleiten dürfen, dass sie sich in diesen herausfordernden Momenten sicher fühlen und den Kindern ihre ruhige Präsenz anbieten können. Ich wünsche mir das für die Menschen, die die Kinder in diesen Momenten begleiten, und für die Kinder selbst. Die Erfahrung, in Schreckmomenten gehalten zu sein und uns selbst oder andere halten zu können, lässt eine Kraft in uns wachsen, die von unschätzbarem Wert ist. 

„Wir können dem Leben vertrauen und uns von ihm tragen lassen!“ 
Diese Botschaft ist es, die dadurch erfahrbar wird und als Kraft in uns weiterwirkt. 

 

Julia Süssmann  ist Diplom-Psychologin, Gestalttherapeutin und Achtsamkeitslehrerin. Sie hat sich auf die Arbeit mit Familien spezialisiert und lebt mit ihren zwei Kindern südlich von München. Bei Arbor Seminare bietet sie verschiedene Kurse zur Integrativen Achtsamkeit an.

Mehr über Julia und ihre Arbeit findet ihr unter: www.julia-suessmann.de

 

Dieser Text ist erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft April 2022