Direkt zum Inhalt

Hör auf zu kämpfen

Thea Unteregger: Hör auf zu kämpfen
Thea Unteregger

Hör auf zu kämpfen

Sechs kleine Geschichten in Richtung Frieden

„Irgendwann in den letzten Wochen ist es mir aufgefallen: Ich kämpfe. Mit den Jacken, die die Kinder nicht aufhängen, mit meinem überfüllten Terminkalender, mit meiner trockenen Haut…“

Ich habe begonnen, zum ersten Mal in meinem Leben, ernsthaft und konkret über Frieden nachzudenken. Was würde geschehen, wenn ich mit dem Kämpfen aufhören würde? Was bedeutet es, nicht mehr zu kämpfen: um die Macht mit den Kindern, darum recht zu haben, darum zu überleben? Geht das überhaupt? 

Der Kampf mit dem Tag 

Egal, ob mich die Kinder wecken oder ich sie zum Aufstehen bewege, irgendwann am Morgen kommt der Zeitpunkt, an dem mein Tag sich innerlich vor mir ausrollt: Was steht heute an? Wird das alles klappen? Hoffentlich kommt die Große nicht zu spät von der Schule. Oh je, heute ist ja Freitag! So schleichen sich die kleinen Sorgen schon am Beginn meines Tages ein. Mir wird bewusst, dass der Tag kaum eine Chance gegen mich hat. Ich tue so, als wüsste ich schon genau, was kommt und wo die Schwierigkeiten liegen, die ich mit Planung bekämpfen muss. 

Und wenn ich aufhören würde zu kämpfen? Dann würde ich mir vielleicht irgendwann an diesem Morgen eine Nische in der Zeit schaffen und mich selbst begrüßen. Ich würde mir einen Kosenamen geben, wie ich es bei den Kindern mache. Ich würde nachspüren, wie es mir heute geht. Einfach so. „Aha!“, würde ich denken, „heute bin ich ein bisschen griesgrämig!“ oder „im Moment fühle ich mich ganz weich!“ Weiter nichts. Dieser Moment würde nur mir gehören. Und dann würde ich den Tag begrüßen, ohne ihn gleich abzuurteilen. „Hallo Tag!“, würde ich sagen und mir vielleicht in einem Schaufenster, an dem ich vorbeigehe, zulächeln. 

Machtkampf gefällig? 

„Setz den Helm auf!“, rufe ich meinem Sohn zu, der seine Jacke anzieht. „Ist uncool!“, schreit er aus dem Gang zurück. Ich glaube mich verhört zu haben. Wütend laufe ich in die Garderobe. „Du setzt diesen Helm auf!“, sage ich dabei sehr laut. „Wenn jemand schon so schnell fährt wie du, dann ist ein Helm ja wohl das Mindeste…“ Er schaut mich an und grinst. Den Helm hat er auf dem Kopf. Da stehe ich nun, beschämt. Ich wäre schon wieder in den Kampf gezogen, ich wäre bereit gewesen, in meinem Kind einen Gegner zu sehen, gegen den ich mich durchsetzen muss. Ich atme tief durch, während er durch die Tür geht und mir winkt. 

Ich versuche, mich daran zu erinnern, dass ich um meine Macht als Elternteil nicht kämpfen muss, weil ich die Macht schon habe. Mein Kind ist rechtlich, wirtschaftlich und wohl auch emotional von mir abhängig. Mit dieser Macht habe ich auch die Verantwortung, für mich selbst zu sorgen. Mein Kind darf mich herausfordern, und genau betrachtet ist das sogar ein Vertrauensbeweis. Die Kinder dürfen mich infrage stellen, aber ich darf mich nicht infrage stellen. Sobald ich aufhöre zu kämpfen, kann ich auf entspannte Art und Weise auf den Helm bestehen, ohne mein Kind (und mich) anzugreifen. Ich kann liebevoll standhaft bleiben bei Dingen, die mir wirklich wichtig sind, und flexibel beim Rest. 

Kleiderkampf 

„Ich habe nichts anzuziehen!“, denke ich mir frustriert, als ich vor dem Schrank stehe. Das eine Oberteil hat einen Riss, das andere spannt über meinem Bauch, weil ich mal wieder zugenommen habe und dieses… „Stopp!“, sage ich in Gedanken zu den Gedanken, weil ich merke, dass ich schon wieder auf dem Kriegspfad bin. Es ist nicht nur meine Garderobe, gegen die ich ins Feld ziehe, sondern es ist mein ganzer Körper! Ich greife mich an mit scharfen und spitzen Gedankenwaffen, mit Vorwurfsraketen und Urteilsgranaten. Ich bin so etwas wie meine eigene Autoimmunerkrankung.

Was würde geschehen, wenn ich aufhören würde zu kämpfen? Sofort glätten sich die Gedankenwellen und Ideen steigen leicht daraus hervor. Ich könnte mich hinsetzen und den Riss rasch flicken (dauert ja nur ein paar Minuten). Ich könnte noch ein bisschen kramen und etwas finden. Ich könnte das Oberteil neu mit einem Schal kombinieren. Ich könnte die Urteile sein lassen, wie ich etwas auf den Sperrmüll bringe, das ich nicht mehr brauche, und mir selbst sanft die Haare aus dem Gesicht streichen. Das ist ungewohnt und fühlt sich gut an. 

Entscheidung 

Ich sitze hier bei Kerzenlicht und schaue aus dem Fenster. Ich spüre den Nachhall des Gespräches mit meiner jugendlichen Tochter heute morgen. Heute war ich empfindlicher als sonst und habe eine patzige Antwort persönlich genommen, obwohl ich genau weiß, dass sie vor der Schule müde und schlecht gelaunt ist. Sie ist wortlos aus dem Haus gegangen, und mir wird bewusst: Das war ich. Ich habe entschieden, dass mich ihr Verhalten verletzt. Ich habe den Krieg begonnen, indem ich mich verletzen ließ und diesen Unmut an sie weitergab. Sie trägt ihn jetzt hinaus. 

Ich hätte auch anders entscheiden können, ich weiß ja, dass ich es mit einem Morgenmuffel zu tun habe. Ich hätte einfach leise lächeln und mir einen Tee kochen können. Dann hätte sie „Ich bin jetzt eine Wolke“ gebrummelt, wenn sie aus dem Haus gegangen wäre, und ich hätte das Gefühl gehabt, heil geblieben zu sein. Alles wäre gut. 

Für jede Verletzung ist meine Erlaubnis nötig. Wenn ich mich verletzt fühle, dann verletze ich. Es ist meine Entscheidung, die den Unterschied macht. Ich kann sagen, was mir nicht passt, aber ich muss dabei nicht mein innerstes, heiliges Wesen infrage stellen. Ich kann dabei heil und ganz bleiben. 

Mutterliebe 

Ich denke über meine Mutter nach. Ich bemerke, dass ich als Kind dies und jenes nicht von ihr bekommen habe und dass dies Wirkungen hatte und hat. Es ist gut, dies zu bemerken. Zugleich ist es nur die halbe Wahrheit, auch das ist ein Kampf. Ein Kampf mit meiner Kindheit, mit meinen Eltern, mit dem Leben selbst. 

Die andere Hälfte der Wahrheit ist, dass ich Geborgenheit, Versorgung und Liebe bekommen habe, denn sonst hätte ich nicht überlebt. Egal, was vorher und nachher und sonst noch geschehen ist in meinem Leben. Ich habe als Embryo sicher genügend Gutes bekommen, sonst wäre ich nicht da. Ich habe erlebt, wie es ist, ganz umsorgt zu sein, genährt und getragen. Wir alle haben das erlebt, ohne Ausnahme. Wir hatten genügend Platz und genug Aufmerksamkeit. Wir alle waren innig mit unseren Müttern verbunden, und zwar so, dass wir leben, wachsen und reifen konnten. Das ist ein friedliches Gefühl. 

Stress 

„Ich bin so gestresst“, erklärt mir meine Tochter und räumt fahrig ihre Schultasche ein, „es sind so viele Tests und ich muss zwei Referate vorbereiten!“ Unglücklich schaut sie mich an. Sie ist gut 30 Jahre jünger als ich. Unglücklich schaue ich zurück. Mir geht es ziemlich ähnlich. 

Ich habe oft den Eindruck, eine Dompteuse zu sein, die die wilden Termine mit der Peitsche in den Kalender zwängt, auch die unaufgeschriebenen wie „Müll raustragen“ und „Sockenpaare finden“. „Wie wäre es, wenn ich die Peitsche aus der Hand legen würde?“ frage ich mich. Dann hätte ich beide Hände frei… 

Vorsichtig berühre ich meine Tochter an der Schulter und sie dreht sich um. Ich umarme sie. Zugleich ist es mir, als würde ich mich selbst umarmen, als wäre ich nicht nur ihre Mutter, sondern auch meine. Tausend tröstende Worte schwirren mir durch den Kopf, tausend Maßnahmen, die ich treffen könnte, doch ich lasse sie an mir vorüberziehen, weil sie mich wieder ein Stück mitnehmen würden, fort von hier, fort von diesem köstlichen Moment. Ich schweige. Jetzt halte ich meine Tochter im Arm und mich selbst, sie und ich, wir beide. Für diesen Augenblick halte ich die Zeit an, es gibt keine Tests und Termine, keine Argumente und keine Pläne, es gibt nur uns. 

Ich spüre: Darum geht es. Das will ich. Ich will nicht mein Leben völlig umkrempeln müssen, um dem Stress zu entgehen, ich will solche kostbaren Momente erleben, in denen ich ganz hier und ganz jetzt bin. Und wenn sich meine Kinder etwas von mir abschauen, dann sollen sie auch diese klitzekleinen Risse im Alltag sehen, durch die das Licht sickert, dann sollen sie mit mir fühlen, dass es jederzeit die Möglichkeit gibt, für einen kleinen, wahren Moment aus dem Stressspiel auszusteigen. 

 

Thea Unteregger ist Autorin, Seminarleiterin und Künstlerin. Als Montessoripädagogin entwickelt sie am liebsten Materialien. Sie ist Mutter von drei jugendlichen Kindern. Mehr auf: www.amathea.it

 

Dieser Text ist erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Juli 2021