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Hineinspüren

Kevin Hawkins: Hineinspüren
Kevin Hawkins

Hineinspüren

(Spiel)raum schaffen

Je mehr wir in unseren Körper hineinspüren und ihn als Frühwarnradarsystem für unbewusste Reaktionen nutzen, umso besser können wir über unser Handeln entscheiden – nicht nur als Lehrkraft einer Oberstufenklasse.


Gegen Ende eines Achtsamkeitskurses nahm ich eine Gruppe 17- bis 18-jähriger Oberstufenschülerinnen mit auf eine „Sinnessafari“ – einen Spaziergang außerhalb des Schulgeländes, der mit Stille, tiefem Zuhören und Reflexion verbunden sein würde. 

Da ich den überwiegenden Teil meiner Lehrerlaufbahn in der Mittelstufe gearbeitet habe (mit 11- bis 14-Jährigen), betrachte ich mich nicht wirklich als Oberstufenlehrer. Als wir die Schule verließen, begann es leicht zu regnen, und ich hielt die Gruppe in einem überdachten schmalen Durchgang an, um die Grundregeln dieser etwas ungewöhnlichen Lernerfahrung zu erklären – einer, die dem von Natur aus geselligen Teenagergehirn gegen den Strich gehen könnte. 

Als ich dastand und wartete, dass die Gruppe sich versammelt, bemerkte ich, wie sich mir der Magen zusammenkrampfte und mein Herz schneller schlug. Meine Handflächen waren feucht. Ein vertrautes Erkennungszeichen von Stress begann Form anzunehmen, und ich nahm mir einen Moment Zeit, um in mich hineinzuspüren und mich diesen Symptomen zuzuwenden. Fühlte ich mich bedroht? Ja. Warum? Lag es vielleicht an der Körpersprache meiner Schüler, an meinem Gefühl, dass sie dies nicht interessieren könnte, dass ich sie möglicherweise zu weit aus ihrer Komfortzone herausholte? Dem Gefühl zugrunde lag das Wissen, dass ich mich beim Unterrichten älterer Jugendlicher nie so richtig wohlgefühlt habe. Vielleicht wegen meiner eigenen Schwierigkeiten mit Autorität und tiefer liegenden rebellischen Neigungen, vielleicht wegen meiner Erfahrungen im Alter von elf Jahren, als ich auf ein britisches Gymnasium ging, an dem Schikane die Norm war. Aus welchen Gründen auch immer äußerte sich meine vage Furcht, nicht in der Lage zu sein, eine Gruppe im Griff zu haben, in meinem Körper durch Bedrohungssymptome. 

(Spiel)raum schaffen 

Wenn wir bedroht sind, verschließen wir uns, unsere Gedankenprozesse verengen sich zu einem „Tunnelblick“ – kein guter Zustand, um achtsames Gewahrsein in der Natur zu unterrichten! Was konnte ich also tun? All dies geschah innerhalb weniger Augenblicke, aber der entscheidende Schritt war bereits getan worden. Indem ich die körperlichen Symptome wahrnahm und das, was ich fühlte, anerkannte, gab ich mir bereits ein wenig Raum, um mit Gewahrsein zu handeln, statt unterbewusst durch mein Unbehagen angetrieben zu werden. Weil ich dann entschied, die nächsten 40 Minuten nicht auf eine feste Auswahl an Reaktionen beschränkt sein zu wollen, konnte ich im Inneren klären, welche Absicht ich für die Klasse hatte, mich ein wenig den körperlichen Symptomen zuwenden, einen tieferen Atemzug machen, bei der Ausatmung stärker loslassen, diese Symptome zulassen („Ich muss es nicht mögen, mich so zu fühlen, ich muss es nur akzeptieren“) und dann dieses erhöhte Gewahrsein dafür nutzen, dass es mich in den nächsten Augenblick hineinleitet. 

Innerlich die Absichten klären

Indem ich meine Aufmerksamkeit darauf fokussierte, was ich erreichen wollte, auf das Mich-Verbinden mit den Schülern, und innerlich meine Absichten klärte, war es mir möglich, nicht überzureagieren, wenn ich sah, dass sie sich nicht unbedingt an die aufgestellten Grundregeln hielten. Es war besser, flexibel zu reagieren, die Dinge ein wenig zur Ruhe kommen zu lassen, als die Jugendlichen scharf zu zwingen, sich zu benehmen und still zu sein. Dass ich ihnen gegenüber offen anerkannte, dass diese Übung ungewöhnlich war – sogar eine Herausforderung darstellte –, kann ebenfalls zur Entwicklung des Prozesses beigetragen haben. Rigoroses Durchgreifen und das Zeigen von Strenge hätten hingegen eine Bedrohungs- oder Vermeidungsreaktion auf ihrer Seite provozieren können. Dies wiederum hätte sie von der sinnlichen Lernerfahrung fernhalten können, die ich für sie zu schaffen versuchte. 

Also ließ ich ihnen etwas Spielraum, während wir den Hügel hinuntergingen, und bestand nicht auf absolute Stille. Ich blieb einfach so gut ich konnte in meiner eigenen Blase. Allmählich, als wir uns weiter von den Gebäuden entfernten und ins Grüne kamen, begannen sie sich zu beruhigen, bis wir letztlich doch Stille hatten und die Möglichkeit, das, was uns umgab, wirklich schätzen zu können. 

 


Dieser Text ist erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft April 2021 und stammt aus dem Buch „Achtsame Lehrer, achtsame Schule“ von Kevin Hawkins, das im Arbor Verlag erschienen ist.

 

Weiteres Material

Kevin Hawkins im Arbor Online-Center

Welcher Weg ist empfehlenswert, um Achtsamkeit in Schulen einzuführen? In diesem Interview geben Kevin Hawkins und Amy Burke Antworten und verraten, wie Achtsamkeit Wohlbefinden in Schulen fördern kann, die Beziehungen im Klassenraum authentischer macht und als Motor für ganzheitliches Lernen dient. Ein Gespräch mit Eva Kastenmeier. 

bearbeitet und gesprochen von Lienhard Valentin

Achtsamkeit in Schulen hineinzutragen liegt uns sehr am Herzen. Wie bieten Ihnen darum hier einen kostenlosen Audio-Download der praktischen Übungen an. Alle Übungen stammen aus dem Buch Achtsame Lehrer, achtsame Schule von Kevin Hawkins. Sie wurden von Lienhard Valentin gesprochen.

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