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Fröhliches Chaos

Wenn ich „Unordnung“ sehe, sehe ich Lernen.
Dayna Martin

Fröhliches Chaos

Als ich heute Morgen erwachte, wurde ich von einer „schrecklichen Unordnung“ auf dem Fußboden begrüßt. Bei vier Kindern ist das ziemlich normal, ungewöhnlich ist jedoch mein Umgang mit dieser täglichen Unordnung. Das Leben mit meinen Kindern, die jeden Tag ihren Leidenschaften folgen, erfordert viel Begleitung, Putzen, Assistieren, Unterstützen und Verbindung schaffen. 

Vor vielen Jahren kam ich zu einer wichtigen Erkenntnis: Ich erkannte, dass ich, wenn ich mit meinen Kindern ein Leben in Freiheit und Frieden leben wollte, unser Haus nicht nur als einen Ort ansehen durfte, an dem wir unsere Dinge aufbewahrten, sondern als etwas viel Größeres. Ich erkannte, dass unser Haus nicht nur mir gehörte. Es gehört „jedem“. Deshalb waren die Bedürfnisse, die ich in Bezug auf unser Haus hatte, gleichzusetzen mit den Bedürfnissen meiner Kinder. Mir wurde langsam klar, wie ich die tägliche „Unordnung“ entspannt und ohne außer Atem zu kommen, annehmen, und wie ich sie anders sehen konnte.

Wenn ich „Unordnung“ sehe, sehe ich Lernen

Mein Bedürfnis nach einem sauberen und ordentlichen Haus ist nicht wichtiger als die Bedürfnisse meiner Kinder, unser Haus als Werkstatt für ihre Interessen zu nutzen. Unsere Küche wird als wissenschaftliches Labor genutzt, zum Färben von Stoffen und zur Herstellung von Papier. Sie ist eine Rollschuhbahn, ein Platz, wo hemmungslos gekocht und gebacken wird, ein Gewächshaus, eine Ideenschmiede und gelegentlich ein Ort, an dem der Yoga-Handstand geübt wird. Unser Wohnzimmer ist gerade ein Computer-Raum, eine Bastel-Zentrale, ein LEGO-Bionicle-Dorf, eine Snack-Probierstube, eine Bibliothek, ein Lernstudio und eine Ringkampf-Arena. Unser Badezimmer wird nicht nur zum Haarewaschen, sondern auch zum Rotfärben der Haare genutzt, es dient als Tierfrisiersalon und noch für viele andere Zwecke.

Wenn ich „Unordnung“ sehe, sehe ich Lernen. Ich sehe, wie Erinnerungen hergestellt werden. Ich sehe Freude und Wachstum. Was ich dabei empfinde, ist Dankbarkeit – tiefe und große Dankbarkeit. Wenn ich morgens aufwache und sehe, was ich eingangs beschrieben habe, denke ich darüber nach, was die Kinder aus den Materialien in der letzten Nacht gemacht haben, nachdem ich zu Bett gegangen war. Was zurückgeblieben ist, ist eine Geschichte ihrer Schaffenskraft. Anstatt stinksauer zu sein und leise vor mich hinzuschimpfen, räume ich selbst auf, lächle und spüre große Liebe in meinem Herzen darüber, dass ich glückliche und gesunde Kinder habe, die so kreativ sind und so leidenschaftlich leben. 

Anstatt mich darüber zu ärgern, dass sie nicht alles selbst aufgeräumt haben, spüre ich Zufriedenheit und akzeptiere, dass ein Leben mit vier unbeschulten Kindern, Unordnung und Arbeit mit sich bringt. Es ist ja auch nur für eine kurze Zeitspanne in meinem Leben… Ich habe Mitgefühl und Verständnis dafür, dass, wenn es spät ist und meine Kinder kreativ sind, sie nicht immer die Kraft haben, alles aufzuräumen, bevor sie ins Bett gehen. Meine Kinder wissen, dass sie die Unordnung bis zum nächsten Morgen liegen lassen dürfen, ohne Angst haben zu müssen, bestraft zu werden – weil ihre Bedürfnisse wichtig sind, genauso wichtig wie meine.

Den Boden für Dankbarkeit, Liebe und Akzeptanz bereiten

Hin und wieder gibt es Tage, an denen ich die Unordnung sehe und erst einmal tief durchatmen muss, um die tief in mir verankerte Konditionierung des Opfers und des Grolls ziehen zu lassen. Manchmal fällt mein Blick auf einen Platz, den ich gerade sauber gemacht hatte, und ich sehe einen neuen Haufen „Interessensrelikte“, und in diesem Fall gelingt es mir nicht, die Gehirnregion zu erreichen, in der Dankbarkeit angesiedelt ist. Diese Tage sind jedoch sehr selten. Ich weiß, dass es wichtig ist, diese Tage wertzuschätzen und um Hilfe zu bitten – die mir in den meisten Fällen auch mit Liebe und Dankbarkeit gewährt wird.

Schauen Sie: Wenn Sie Ihr Zuhause nicht zu einem Hort von Ärger und Frustration machen, dann leben Sie auch nicht vor, dass Hausarbeit als ermüdend und unangenehm empfunden wird. Stattdessen bereiten Sie den Boden für Dankbarkeit, Liebe und Akzeptanz. Sie können wählen, wie Sie sich fühlen, wenn Sie Ihr Haus aufräumen. Bei meinen Kindern spüre ich dieselbe Energie wenn sie – selbst – aufräumen. Es ist wichtig, dies anzuerkennen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Wenn Ihre Kinder sich weigern, aufzuräumen, dann sollten Sie darüber nachdenken, was Sie ihnen über die Jahre vorgelebt haben. Meine Kinder haben immer die Wahl, aufzuräumen oder nicht, auch was ihre eigene Unordnung betrifft. Ich helfe ihnen immer, falls und wenn sie Hilfe brauchen, und sie werden niemals gedrängt oder gezwungen, es zu tun. In den meisten Fällen entscheiden sie sich zu helfen, und ich weiß, dass sie es aufgrund meiner positiven Haltung gegenüber dem Aufräumen und der Freiheit, die sie haben, tun.

Mittel und Wege finden, die Bedürfnisse aller Familienmitglieder zu respektieren

Ich weiß, dass eine Zeit kommen wird, in der ich mich wieder nach diesen Stofffetzen und Garnresten auf dem Fußboden sehnen werde. Es wird eine Zeit kommen, in der alles, was übrig geblieben ist, meine Bedürfnisse sein werden – nach einem sauberen, aufgeräumten Haus. In der Zwischenzeit werde ich fortfahren, Mittel und Wege zu finden, die Bedürfnisse aller Familienmitglieder zu respektieren. Ich werde auch in Zukunft versuchen, mich weiterzuentwickeln, neue Fähigkeiten zu entwickeln und meine Wahrnehmungsfähigkeit zu verbessern, um jeden in unserem gemeinsamen Heim – gleichermaßen und kraftvoll – anzuerkennen.

Dieser Prozess ist nie zu Ende und zeigt mir, wie unglaublich wichtig meine Rolle ist, wenn ich den Raum für meine Kinder gestalte. Ich kann voller Ärger und Verdruss sauber machen und aufräumen oder ich kann es mit einem Gefühl der Liebe und Dankbarkeit tun. In beiden Fällen wird sie mein Handeln den Rest ihres Lebens innerlich begleiten. Ich habe mich dafür entschieden, ein höheres Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass die Bedürfnisse jedes Einzelnen gleichermaßen respektiert werden. Ich habe mich dafür entschieden, dankbar zu sein, gesunde und kreative Kinder großzuziehen, die immer lernen, forschen und gemeinsam Abenteuer erleben. 

Ich schaffe eine Atmosphäre des Friedens und des Respekts, wie sie die meisten Kinder heutzutage nicht erfahren dürfen. Unser Zuhause ist nicht einfach ein Ort, an dem wir unsere „Dinge“ abstellen. Es ist das Herzstück im Leben meiner Kinder: ein Ort der Liebe und des Lernens. Ich bin heute sehr dankbar dafür, dass mir das bewusst ist.

 

Dayna Martin ist vierfache Mutter. Sie arbeitet als Coach, berät Eltern weltweit und hat mehrere Bücher geschrieben. Weitere Informationen unter: www.daynamartin.com

 

Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft April 2019