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Eingehen

Michele Cassou: Eingehen
Michele Cassou

Eingehen

Wie wir die Selbstsicherheit unserer Kinder fördern

Als Vermittlerin des kreativen Prozesses habe ich unter anderem die Aufgabe, ein Gefühl für kreative Abenteuer in den Kindern zu wecken. Es entzückt mich, ihnen zu zeigen, wie aufregend die Freude am Risiko sein kann und dass der kreative Prozess ständig von positiver Spannung begleitet ist. Die Risiken, zu denen ich sie einlade, haben damit zu tun, spontan zu sein und die eigene Inspiration nicht zu zensieren. Es ist unsere Aufgabe als Eltern und Lehrer, die Selbstsicherheit der Kinder zu fördern, damit sie ihren Urinstinkten wieder vertrauen und in das weite Unbekannte eintreten können. Jeder neue Schritt bringt eine Überraschung, die direkt aus der Mitte ihres Wesens kommt. Was für ein wunderbares Gefühl, das Unerwartete in die Welt zu bringen!

In der ersten Malsitzung mit einer neuen Gruppe ist der Geräuschpegel oft sehr hoch. Die Kinder, die noch das Risiko fürchten, sie selbst zu sein, stürzen sich nicht sofort in das kreative Abenteuer. Sie bombardieren mich mit Tausenden von Fragen: „Könntest du mir zeigen, wie man einen Fisch malt?“„Ich weiß nicht, wie man Wasser malt!“„Welche Farbe hat der Sonnenuntergang?“„Zeig mir bitte, wie man eine Katze macht!“„Was sollte ich als Nächstes malen?“ Und so weiter und so fort. Kinder haben gewöhnlich kein Vertrauen in ihre eigene Fähigkeit, zu forschen, und wissen nicht, wie sie sich auf die mysteriöse Welt der Schöpfung einlassen sollen. Leider hat sich in ihren jungen Köpfen die Idee breitgemacht, etwas zu erschaffen bedeute, etwas nachzumachen, und nicht, es neu zu erfinden.

Traue Dich und erlebe das Abenteuer der Schöpfung

Ich erklärte Annie: „Es gibt lauter verschiedene Fische auf der Welt, alle möglichen Formen und Farben. Du würdest nicht glauben, wie verschieden die sein können! Erfinde deine eigenen, du kannst nichts falsch machen, gehe einfach das Risiko ein! Traue dich, deinen eigenen Fisch zu malen!“ Wenige Minuten später hatte Annie einen wunderbaren, leuchtenden Fisch mit einem riesigen Kopf und einer winzigen grünen Schwanzflosse gemalt. Hätte ich ihr gezeigt, wie man einen Fisch malt, wäre ihr das Entzücken am Erfinden genommen worden. Sie hätte das Abenteuer der Schöpfung verpasst, seine Lebendigkeit und seine Magie.

Als der achtjährige Rick mich fragte, wie man das Meer malt, sagte ich: „Das Wasser im Meer kann jede beliebige Farbe haben. Das hängt davon ab, wie die Lichtverhältnisse sind und welche Mineralien im Wasser sind. Du kannst also einfach erfinden, was du gerne möchtest. Alles ist möglich! Du kannst einfach experimentieren und das Risiko eingehen, das Meer auf eigene Weise zu erforschen!“

In meiner Rolle als Lehrerin muss ich den Kindern verstehen helfen, dass sie in ihrer Schöpfung alles tun können, was natürlich für sie ist. Beim schöpferischen Tun bewegen sich Kinder in ihrer eigenen Welt, und wir sollten sie nie dazu anhalten, irgendwelchen Vorschlägen zu folgen, sondern sie stattdessen ermutigen, den Bedürfnissen ihrer eigenen Intuition zu folgen.

Sich auf seinen natürlichen Forschungsdrang einlassen?

Die Kreativität ist ein Bereich, der keine Kompromisse duldet – nur so ist authentische Erforschung möglich. Kreativität bietet den Kindern allen Raum, den sie brauchen, um ihre Welt auszubilden, einzufärben und auszudrücken. Wenn sie zum ersten Mal mit dieser Möglichkeit in Kontakt kommen, fühlen sie sich oft von dem gewaltigen Potenzial, das sie ihnen bietet, überwältigt und manchmal auch erschreckt. Sie sind nicht daran gewöhnt, selbst zu forschen, fühlen sich unsicher und brauchen Zeit und Unterstützung, um das Vertrauen in sich selbst wiederzugewinnen. Doch in Wirklichkeit stellt nicht die Tatsache, sich auf seinen natürlichen Forschungsdrang einzulassen, ein Risiko dar! Das wahre Risiko besteht darin, diesem Drang nicht zu folgen.

Wenige Minuten später hatte Rick lila Wasser mit weiß-grünem Schaum gemalt und wirkte sehr zufrieden mit sich selbst. Warum sollte das Wasser in Ricks Traumwelt blau sein? In Wirklichkeit war er der Einzige, der die richtige Farbe kennen konnte. Und Jean malte einen braunen Sonnenuntergang mit gelben Linien. Er drückte perfekt aus, was sie fühlte.

Erfinden mit totaler Hingabe

Als der kleine Henry mich fragte: „Wie male ich eine Katze?“, hockte ich mich neben ihn und sagte: „Henry, weißt du eigentlich, was für einen Spaß es machen würde, deine eigene Katze zu erfinden? Eine ganz besondere Katze, anders als alle andern?“ Er schaute mich verwirrt und unsicher an. Doch wenige Minuten später hatte er mit totaler Hingabe eine gelbe Katze mit grünen Augen gemalt. Ihre Proportionen waren ungelenk, aber sein spontanes Design gab ihr eine Lebendigkeit und eine Präsenz, die das Herz berührten.

Als er fertig war, schaute er mich an, und als sich unsere Augen begegneten, sah ich, dass wir Freunde geworden waren. Ich hatte ihn nicht gebeten, in meine Welt zu kommen; ich hatte mich in seine Welt begeben.

 

Aus dem Buch: Kinderspiel
Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Oktober 2017
 

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