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Eine neue Welt in der Welt

Du hast Flügel. Lerne, sie zu gebrauchen, und fliege.
Marie Martin

Eine neue Welt in der Welt

Viele Eltern machen sich Vorwürfe, nicht gut genug zu sein oder zumindest nicht so gut, wie sie gerne wären. In der Selbstkritik sind die meisten Menschen sehr versiert. Es fällt uns so viel leichter, uns zu kritisieren, als uns liebevoll anzunehmen und zu sehen, was wir schon alles geschafft haben. 

Häufig haben wir auch übergroße Ansprüche an uns selbst und kritisieren uns dafür, dass wir wieder einmal versagt haben. Wieder ist alles unordentlich, wieder waren wir ungeduldig, sind ausgerastet oder stehen einfach nicht an der Stelle im Leben, an der wir gerne wären. Bei anderen sieht alles immer perfekt aus, die idealen Menschen, Eltern, Familien, Kinder, während bei uns selbst alles bruchstückhaft, improvisiert oder wie eine Baustelle wirkt. 

Manche Eltern verurteilen sich dafür, nicht liebevoll genug zu sein, dabei machen sie schon so vieles anders als die Generation vor ihnen und sehen gar nicht, dass sie ja längst auf einem neuen, anderen Weg sind. Vieles ist schon passiert, hat sich verändert, und wer seinen Fixstern nicht vergisst – die innere Leitlinie –, kann immer wieder dahin zurückkehren, auch wenn es streckenweise schwierig oder unmöglich scheint und man die Verbindung dazu zwischenzeitlich vielleicht aus den Augen verloren hat. 

Kinder als Lehrmeister zu betrachten

Die innere Leitlinie kann sein, dass wir in liebevoller, unterstützender Verbundenheit leben wollen oder dass die Beziehung nie äußeren Ansprüchen oder Druck geopfert wird (z.B. Schule, Verwandte, gesellschaftliche Idealbilder usw.) und dass man das Wesen der Kinder und ihre Qualitäten nicht aus den Augen verliert und ehren kann, auch wenn es schwierige, anstrengende und nervige Phasen gibt. Der spirituelle Lehrer und Autor Wayne Dyer empfiehlt sogar, die Kinder als Lehrmeister zu betrachten, die etwas an Weisheit und Wissen mitgebracht haben. 

Jeder Mensch bringt eine ganz eigene Welt mit, oder wie der Dichter Rumi sagt: „Du bist mit einem Potenzial geboren worden/du bist mit Güte und Vertrauen geboren worden/Du bist mit Idealen und Träumen geboren worden…“

Die Vorstellungskraft sprießen lassen


Familien können Orte sein, an denen diese Träume leben und sich entfalten dürfen, auch wenn es in der Schule vielleicht schwierig ist und die Qualitäten und Potenziale dort gar nicht gefragt sind. Dem Bestsellerautor Terry Pratchett wurde schon als kleiner Junge von seinem Lehrer eingeredet, dass er es wahrscheinlich nicht auf die weiterführende Schule schaffen würde, und er sagt selbst, er war in der Schule „das Musterbeispiel eines einfältigen und weltfernen Träumers“. Seine Bücher haben sich später millionenfach verkauft. Wie gut, dass seine Eltern ihm ein Teleskop gekauft haben und er später über seine erfundenen Welten geschrieben hat. 

„Ich fordere sie auf“, schreibt Wayne Dyer, „nicht nur die Vorstellungskraft Ihrer Kinder sprießen zu lassen, sondern auch ihre eigene. Seien Sie ganz unvoreingenommen und erlauben Sie der Vorstellungskraft Ihres Kindes, sich frei aufzuschwingen und sich in jeder Weise auszudrücken.“ Oft haben Kinder oder auch später Jugendliche konkrete Gedanken zur Verbesserung der Welt, erfinden Dinge oder entwickeln kreative Lösungsvorschläge für Umweltproblematiken. Diesen ursprünglichen kreativen und neugierigen Geist von früher Kindheit an leben zu lassen wird später dazu führen, dass es einen Menschen mehr gibt, der nicht so viel beiseiteräumen muss, um zu seinen Quellen zurückzufinden. 

Wir alle kommen, um unser Potenzial in die Welt zu bringen

Wenn Eltern sich auf einen anderen Weg begeben, der auf einem achtsamen, liebevollen Miteinander basiert, ist das ein Richtungswechsel, der auch für die Gesellschaft bedeutsam ist. Wer sich immer wieder dafür entscheidet, Raum zu lassen, statt dem gesellschaftlichen Druck nachzugeben, wer versucht, liebevoll mit sich selbst und seinen Kindern umzugehen, wer die Verhältnisse in Frage stellt und nach neuen Wegen sucht, wer sich dafür entscheidet, noch zu träumen und nicht nur zu funktionieren, der kreiert auch immer eine neue Möglichkeit, dass etwas wachsen kann. 

Mit jedem Kind kommt auch eine neue Gabe in die Welt, die Möglichkeit, neue Ideen in die Gesellschaft einzubringen, oder einfach diese eine spezifische Qualität. Oft kann man schon früh erkennen, wovon ein Mensch fasziniert ist oder wohin sich ein Wesen gezogen fühlt. Auf jeden Fall möchte sich etwas entfalten und zum Leben kommen. Dieses zu begleiten ist eine ehrenvolle Aufgabe für Eltern, eine Aufgabe, die gesellschaftlich viel zu wenig gewürdigt wird, obwohl sie so bedeutsam ist für unseren Planeten. Wir alle kommen, um unser Potenzial in die Welt zu bringen, um uns geliebt und angenommen zu fühlen, um zu lieben und zu schenken. 

Oder wie Rumi weiter sagt: 

„Du bist mit Größe geboren worden. 
Du bist mit Flügeln geboren worden. 
Du bist nicht zum Kriechen geboren worden. 
Du hast Flügel. Lerne, sie zu gebrauchen, und fliege.“

 

Marie Martin ist Autorin und Theaterpädagogin, schreibt seit einigen Jahren für die Zeitschrift Mit Kindern wachsen. Ihr Interesse gilt unter anderem großen PädagogInnen, neuen Bildungswegen und der Kreativitätsförderung.

 

Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Januar 2019