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Ein Vorsatz für mehr als 30 Sekunden

Ein Vorsatz für mehr als 30 Sekunden: Wiese
Thomas Bien

Ein Vorsatz für mehr als 30 Sekunden

Achtsamkeit zu üben, bedeutet geduldig sein und gelassen durchhalten

Ein Freund erzählte mir, er habe sich eines Tages vorgenommen, achtsam zu leben, aber sein Vorsatz hielt nur 30 Sekunden, bis er frustriert aufgab. Eine Freundin von mir sagte, meine Bücher über Achtsamkeit gefielen ihr, aber die praktische Umsetzung falle ihr schwer. Wenn wir bei dem Versuch, Achtsamkeit zu üben, frustriert werden und feststellen, dass wir aufgeben, kann das daran liegen, dass es sich einfach anhört und wir deshalb erwarten, dass es leicht ist. Wir gestehen bereitwillig ein, dass es uns helfen würde, wenn wir in einer vollen, akzeptierenden, nicht wertenden Bewusstheit für den immer neuen Moment unseres Erlebens leben würden. Aber wenn wir versuchen, diese simple Idee in die Tat umzusetzen, kann sie abschreckend sein.

Ein nützlicher Vergleich ist das Laufen

Wie das Laufen ist Achtsamkeit ein simpler Vorgang: Mach diesen Schritt, dann diesen, dann diesen. Aber man sollte nicht erwarten, rausgehen und sofort einen Marathon laufen zu können. Schulung, Training und Durchhaltevermögen sind nötig. Eine ruhige, nachhaltige Bemühung wird wahrscheinlich mehr bringen als plötzliche und unregelmäßige Ausbrüche angestrengter Aktivität.

Sowohl das Laufen als auch die Achtsamkeit bringen nahezu unmittelbaren Lohn, wenn man sich nicht zu sehr antreibt oder überanstrengt. Wenn man einfach so viel läuft, bis es reicht, und nicht zu viel, dann kann man schon beim ersten Mal das Gefühl angenehmer Entspannung und sanfter Müdigkeit spüren, das sich nach sportlicher Aktivität einstellt. Und wenn Sie geduldig sind und gelassen durchhalten, können Sie schon nach relativ kurzer Zeit gewisse Fortschritte verspüren. Konnten Sie am Anfang vielleicht nur ein paar hundert Meter joggen, so schaffen Sie allmählich einen Kilometer, dann eineinhalb, dann mehrere Kilometer. An diesem Punkt fassen Sie Mut, und ein Marathon rückt in den Bereich des Möglichen.

Genauso ist es bei der Achtsamkeits-Schulung möglich, sofort eine gewisse Erleichterung zu erleben. Wenn Sie das erste Mal achtsames Atmen üben, können Sie ein gewisses Wohlgefühl erleben, während Sie den Bewegungen und Empfindungen des Ein- und Ausatmens folgen. Allmählich, im Lauf der Zeit, werden die Momente, wo Sie wegdriften, kürzer und die Phasen, in denen Sie in der Gegenwart zentriert sind, länger. Und eines Tages wird das möglich sein, was in den 30 Sekunden, als Sie anfingen, unmöglich schien.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Achtsamkeit in der therapeutischen Beziehung.