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Ein innerer Kompass

Ein innerer Kompass
Lienhard Valentin

Ein innerer Kompass

Elternsein heißt, immer wieder keine Ahnung zu haben. Kommt Euch das bekannt vor? Obwohl es schon über zwanzig Jahre her ist, kann ich mich noch gut erinnern an das Rätselraten, was ich nur „tun“ sollte, wenn etwas mit meinem Sohn nicht so lief, wie ich mir das vorstellte. Dabei war ich doch so gut vorbereitet!

Schon lange bevor ich Vater wurde, war ich mit den Wilds und Anna Tardos unterwegs, nahm an ihren Seminaren und Weiterbildungen teil, arbeitete an ihren Büchern mit, auch Jesper Juul war bei uns zu Gast – und das vor dem Hintergrund einer Gestaltausbildung und jahrelanger Achtsamkeitspraxis.

Heute bin ich froh, dass mein Sohn die Bücher nicht gelesen hat, sondern radikal er selbst war, ohne jede Veranlassung, meine Erwartungen zu erfüllen. Das war ganz sicher nicht immer leicht – was mit Kindern zu wachsen bedeuten kann, wurde mir da deutlich vor Augen geführt. Letztlich waren es vor allem die einfühlsame Begleitung von Katharina Martin und meine Achtsamkeitspraxis, die es mir immer wieder ermöglichten, meine Ideen los- und mich selbst auf dieses Abenteuer einzulassen.

Eine Eltern-Kind-Beziehung ist letztendlich eine Liebesbeziehung

Wenn ich heute Seminare oder Vorträge für Eltern und Pädagogen gebe, kommt die Frage: „Was soll ich denn tun, wenn …?“ verständlicherweise in allen möglichen Varianten immer wieder auf. Und es gibt ja auch zahlreiche Bücher und Menschen, die uns großzügig ihren Rat anbieten. Und selbst, wenn diese Bücher uns zutiefst ansprechen und berühren und wir diesen Weg von ganzem Herzen gehen wollen, scheint es doch in unserem ganz persönlichen Fall immer etwas anders zu sein. Es will einfach nicht so funktionieren, wie wir uns das vorstellen. Und dann kommt leicht das Gefühl auf, dass entweder mit uns oder mit dem Kind etwas nicht stimmt. Dass wir nicht gut genug sind oder unser Kind einfach schwierig.

Damit will ich nichts gegen diese Art von Büchern sagen – im Gegenteil, von vielen habe ich sehr profitiert und profitiere noch heute von ihnen. Nur braucht es eine Art Verdauungsprozess, um mir die Inhalte wirklich zu eigen zu machen und mir nicht einfach etwas „aufzusetzen“ und es dann anzuwenden, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Das ist letztlich Manipulation – selbst wenn es in schönen Ich-Sätzen und den genau richtigen Formulierungen aus den entsprechenden Ratgebern stammt. Und so etwas spüren Kinder sehr schnell, denn auf diese Art und Weise machen wir sie letztlich zu Objekten und das mag niemand wirklich gerne in einer Liebesbeziehung, wie es die Eltern-Kind-Beziehung letztlich ist.

Alle Bücher beschreiben eine allgemeine Landschaft und versuchen dort mehr oder weniger konkret Orientierung zu geben, und dagegen ist auch gar nichts zu sagen, wenn wir uns darüber im Klaren sind, dass es für das Land, in dem wir uns bewegenn keine Landkarte gibt und dass es sich darüber hinaus ständig verändert. Jedes Kind ist einzigartig und jede Situation in jeder Familie ebenso, und so können alle allgemeinen Beschreibungen letztlich nur teilweise auf unsere spezifische Situation zutreffen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere ganz persönliche, authentische Art und Weise zu finden, unsere Beziehung zu unseren Kindern zu gestalten. Was wir dafür vor allem benötigen, ist ein Leitstern und ein Kompass, um uns auch bei hohem Seegang zu orientieren und auf Kurs zu bleiben. Oder den Weg zurückzufinden, wenn wir vom Kurs abgekommen sind.

Unser innerer Leitstern

Als Leitstern können uns unsere Werte und unsere Motivation dienen – sie geben uns eine innere ­Ausrichtung, so dass wir uns immer wieder neu orientieren können. Und bitte erspart Euch die Zwangsjacke der Perfektion! Es geht wirklich nicht darum, immer alles richtig zu machen, sondern so gut es geht und die Umstände es erlauben, unser Leben und unsere Liebe zu unseren Kindern zu leben – mit allen Unzulänglichkeiten, aber mit viel Mitgefühl.

Ein Leitstern ist etwas grundsätzlich Anderes als ein Ziel. Ein Ziel können wir erreichen oder verfehlen – das führt im Leben mit Kindern zu Anstrengung, Urteilen und Stress. Die ständige Frage: „Bin ich gut genug?“ oder das Grundgefühl, nicht zu genügen, macht uns das Leben unnötig schwer. Ein Leitstern bewertet und urteilt nicht, sondern gibt uns Orientierung und verbunden mit Selbstfreundlichkeit und Selbstmitgefühl kann die Reise sehr viel erfüllender, fried- und freudvoller werden.

Natürlich können auch Landkarten und Erfahrungsberichte anderer Reisender eine Hilfe sein – ich möchte das gar nicht kleinreden. Gewisse Grundkenntnisse über die Entwicklungsbedürfnisse von Kindern, die neuere Bindungs- und Gehirnforschung und vieles Andere mehr können von großem Nutzen sein – aber eben nur dann, wenn unser Leitstern klar leuchtet und wir mit unserem inneren Kompass in Kontakt sind. Wissen allein genügt da nicht – entscheidend ist, was wir im konkreten Leben verkörpern, wie wir SIND und erst dann, was wir tun oder sagen.

Nun liegt es in der Natur der Sache, dass wir SEIN nicht TUN können. Der jeweilige Zustand, in dem wir uns befinden, entscheidet darüber, wie wir eine Situation sehen, wie wir sie interpretieren und wie wir dann auch handeln. Wenn wir ausgeglichen, gelassen und mit uns im Einklang sind, reagieren wir vermutlich völlig anders auf dieselbe Situation, als wenn wir unter Zeitdruck stehen, müde oder aus anderen Gründen im Stress oder unausgeglichen sind. Und nur, wenn wir zumindest einigermaßen mit uns in Kontakt sind, haben wir Zugang zu unserem inneren Kompass. Manchmal, wenn alles zu viel ist und wir einfach überfordert sind, geht es nur darum, solche Situationen oder Zeiten zu überstehen, ohne dass wir oder unsere Kinder Schaden nehmen. Aber damit wollen wir uns als Eltern vermutlich nicht begnügen. Wie möchten, dass unsere Kinder sie selbst bleiben, sich und ihr Potenzial entfalten und sich mit uns verbunden fühlen können.

Das innere gefühlte Wissen, was sich stimmig anfühlt, ist nicht in erster Linie im Kopf

Daniel Siegel, der Vater der Interpersonellen Neurobiologie, hat ein Modell des Bewusstseins entwickelt, das ich sehr hilfreich finde. Er nennt es das Bewusstseinsrad. In der Mitte des Rades ist die Nabe, die für den Zustand des achtsamen Gewahrseins steht, während der Rand des Rades all die Dinge enthält, die im Gewahrsein erscheinen – also alles, was wir erkennen, erfahren oder wissen können. Wenn wir in der Nabe sind, ruhen wir in uns selbst – sind mit uns im Einklang und haben das, was Daniel Siegel „Mindsight“ nennt.

Die Fähigkeit, Einsicht in unseren eigenen Geist und Empathie und Einsicht in den Geist von anderen Menschen zu haben. Wenn wir aus unserer Mitte fallen – also von der Nabe in den Rand des Rades –, verlieren wir uns in Gedanken oder Emotionen oder alten Verhaltensmustern und damit auch unsere Orientierung. Wenn wir hingegen in unserer Mitte sind, können wir uns auf Aspekte des Rades fokussieren (das sind dann die Speichen des Rades), ohne aus der Mitte herauszufallen. Hier können wir innehalten, reflektieren und von dieser Mitte aus haben wir auch am ehesten Zugang zu unserem inneren Kompass.

In dem Film „Fluch der Karibik“ hat Captain Jack Sparrow einen ganz ähnlichen Kompass. Dieser zeigt nicht nach Norden, sondern zeigt ihm an, welche Richtung er einschlagen soll. Und so etwas ist auch uns zugänglich – ein inneres gefühltes Wissen, was sich stimmig anfühlt, was für uns passt. Dieses „Wissen“ ist nicht in erster Linie im Kopf – es ist vielmehr vergleichbar mit einer intuitiven inneren Gewissheit, ob wir mit uns und unseren inneren Werten in Einklang sind oder ob wir uns von uns selbst entfernen, verschließen oder verhärten.

Durch die Höhen und Tiefen des Elternseins navigieren

Dieser innere Kompass ist uns, wie gesagt, nicht immer zugänglich, aber wir können geistige Qualitäten kultivieren, die es uns möglich machen, mehr und mehr in Einklang mit uns selbst und in Kontakt mit unserem inneren Kompass zu sein.

Darum geht es letztlich auch im „Mit-Kindern-wachsen-Elternkompass“ – zu lernen, immer wieder in unsere Mitte (die Nabe unseres Bewusstseins) zurückzukehren und uns von dort aus zu orientieren. Und von dort aus können wir uns auch einstimmen in uns selbst und in unsere Kinder und durch die Höhen und Tiefen des Elternseins navigieren. Das heißt nicht, dass wir niemals mehr vom Kurs abweichen und wir alles unter Kontrolle haben – überhaupt nicht!

Wir werden auch weiterhin immer wieder mal keine Ahnung haben – das liegt nunmal in der Natur der Sache. Es ist weder unser Fehler noch der der Kinder – es ist eine Abenteuerreise, und wenn wir einen Leitstern und einen Kompass haben, werden wir mit unseren Kindern wachsen und neue Ufer und Länder entdecken, von denen wir vorher keine Ahnung hatten.

 

Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Oktober 2016

 

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