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Die Welt an die Angel kriegen

Die Welt an die Angel kriegen: Kreidebild Angeln
Dzigar Kongtrül

Die Welt an die Angel kriegen

Anhaftungen aller Art gehören zum Menschsein dazu

Wir glauben, dass wir ohne diese Welt nicht leben können, deswegen werfen wir nach ihr Angelhaken aus. Wir versuchen die Welt zu verführen, um unser Selbstgefühl abzusichern. Die Welt an unserem Haken aufzuspießen, soll uns glücklicher machen. Dafür scheint es immer wieder gute Gründe zu geben – wir glauben, das wäre für uns hilfreich, befriedigend oder gut.

Aus welchem Grund auch immer, wir brauchen etwas, an unserem Haken, irgendetwas, an dem wir uns festhalten können. Und wenn wir etwas am Haken haben, dann lässt uns allein der Gedanke, es loszulassen am Sinn unseres Lebens zweifeln. Diese tiefe Unsicherheit ist die Wurzel all unserer Anhaftung. Und genau daran sollten wir arbeiten.

Genau darum geht es

Um die Wurzel der Anhaftung auszureißen, müssen wir uns von der Anhaftung an ein Selbst befreien. Unsere größte Furcht ist, unser Ego auzugeben und unser Selbstgefühl zu verlieren – das fürchten wir mehr als jede tödliche Seuche. Aber egal wie verheerend es sich auch anfühlt, Anhaftung aufzugeben – einschließlich der Anhaftung an das Selbst – genau darum geht es im Dharma.

Als Praktizierende müssen wir unsere Gewohnheiten in Frage stellen – auch jene unser Leben auf solch unsicheres Terrain, wie der Welt um uns herum, zu bauen. Vielleicht sollten wir unser Leben stattdessen auf Nicht-Anhaftung bauen. Das erfordert Wagemut. Ohne den Wagemut der Nicht-Anhaftung können wir nicht wirklich Selbst-Erkenntnis praktizieren, denn wir haben schon zu viel in den investiert, der wir sein wollen.

Was zählt ist, wie wir uns auf diese Welt beziehen

In dieser menschlichen Welt werden wir immer einige grundlegende Dinge wie Essen, Kleidung und Schutz brauchen. Ob wir in einer Höhle leben oder einem riesigen Haus voller Kostbarkeiten – was den Ausschlag dafür gibt, ob uns diese Dinge unsere Freiheit rauben oder nicht, ist unsere Anhaftung. Ob wir nun eine Sache besitzen oder Hunderttausende, ohne Anhaftung sind wir nicht an sie gebunden.

Die großen Asketen der christlichen und buddhistischen Traditionen wie Jesus, Buddha, der Heilige Franz von Assisi und Milarepa13 werden dafür bewundert, dass sie an weltliche Dinge nicht gebunden waren. Was sie so außergewöhnlich macht, ist nicht, dass sie nur wenige Besitztümer hatten, sondern dass sie frei waren von Anhaftung.

Es ist eine wunderbare Sache, ein Asket zu werden wie die großen Meister in der Vergangenheit. Aber an und für sich ist das nicht das Wesentliche. Was zählt ist, dass wir uns freimachen von der Art und Weise, wie wir uns auf diese Welt beziehen – und es gibt nichts, was uns mehr daran bindet als das Gefühl unseres Selbst. Dieses Selbst, das wir so sehr hegen und schützen, ist der Ursprung all unserer Anhaftung, Furcht und Unsicherheit. Denn das Ego hat uns davon überzeugt, dass wir dieses Selbst am besten schützen, indem wir unsere Angelhaken nach der Welt auswerfen. Aus dieser ständigen Anstrengung sprudeln alle Leiden wie aus einer unerschöpflichen Quelle. Und der Ursprung dieser Quelle sind wir selbst.

Kriegen, kriegen, kriegen, ködern, ködern, ködern

Wenn ihr also feststellt, dass ihr einen Köder nach jemandem oder etwas auswerft, dann fragt euch:

Was mache ich da?

Will und brauche ich das wirklich?

Wird es mich von meinem Leid befreien und mir höchstes Glück schenken?

Oder wird es mein Leben komplizierter machen und die Gewohnheiten, die ich ohnehin schon habe, verstärken?

Seht euch auch all die Dinge an, von denen andere denken, dass ihr sie an den Angelhaken bekommen solltet. Das waren nicht eure eigenen Ideen und ihr seid nicht von selbst auf den Gedanken gekommen, zu kriegen, kriegen, kriegen und zu ködern, ködern, ködern. Die Welt hat ihre eigenen Überzeugungen, was zu ködern ist und wie man die Haken am geschicktesten auswirft. Oft machen wir einfach dabei mit, was andere für sich ködern wollen, aber deren Antrieb und Überzeugungen sind nicht notwendigerweise gut für uns.

Aus der Sicht des Dharma ist das, was wir im Leben am meisten wollen, frei zu sein von Unsicherheit und Anhaftung. Wir wollen unsere weltlichen Fesseln abwerfen und gegen Nicht-Anhaftung eintauschen, gegen Leerheit, Selbstlosigkeit und die Erkenntnis des wahren Natur aller Dinge. Die Absicht des spirituellen Lebens ist es, von weltlichen Fesseln frei zu werden – an diesem Punkt können wir uns einfach an der Entfaltung unseres Lebens erfreuen. Ohne weiteres Bedürfnis, irgendetwas zu ködern oder abzulehnen, können wir einfach sein. Wir versuchen nicht mehr, etwas zu bekommen oder loszuwerden. Wir können das Karma, das sich jeden Tag entfaltet, erleben und wertschätzen. Wir sind endlich frei von der Bindung an weltliche Dinge, ihre Samen und all dem, was aus diesen Samen entsteht.

„Ich brauche das, ich will das, ich kann ohne das nicht leben“

Askese ist ein Mittel zur Überwindung der Selbst-Anhaftung durch die Praxis, materiellen Dingen zu entsagen. Aber auch wenn wir nichts mehr besitzen als eine Schale, aus der wir essen, können wir innerlich immer noch eine starke Anhaftung an das Selbst haben. Wenn wir dagegen innerlich frei von Anhaftung sind, dann ist es egal, wie die Dinge von außen betrachtet aussehen. Vielleicht ködern wir weltliche Dinge als geschickte Mittel, um eine höhere Absicht zu verfolgen und wissen dabei all das zu schätzen, was währenddessen auf unserem Weg auftaucht.

Die Welt zu ködern, bringt uns nur dann in große Schwierigkeiten, wenn wir dies aus tiefer Unsicherheit tun. Wenn ihr euch also dabei ertappt, dass ihr denkt, „Ich brauche das, ich will das, ich kann ohne das nicht leben“, dann fragt euch, ob da nicht eine Unsicherheit danach ruft, gefüttert zu werden. Und wenn ihr sie füttert, dann schaut, ob es euch gut tut. Bringt euch das Erleichterung, Glück oder einen Durchbruch in eurem Geist? Wenn nicht, warum sollten wir unser Leben damit komplizieren?

Unterschwellige Wünsche tauchen jeden Tag auf, jede Stunde, jeden Augenblick

Der Wunsch, Präsident die Vereinigten Staaten zu werden, ist zum Beispiel ein großer Wunsch. Aber unser Verstand registriert die Komplikationen und Schwierigkeiten sofort. Wahrscheinlich erkennen wir schnell, dass dieser Wunsch unrealistisch ist und lassen ihn fallen.

Kleine Wünsche aber verursachen viel mehr Probleme. Unterschwellige Wünsche tauchen jeden Tag auf, jede Stunde, jeden Augenblick – und wir denken sie normalerweise nicht zu Ende. Wir nehmen sie vielleicht nicht einmal bewusst wahr. Wenn wir sie erkennen, tun wir sie vielleicht als klein und angemessen ab: Was ist schon dabei, wenn ich mir diese Tasse Kaffee oder diesen Schokoriegel genehmige – auch wenn es ungesund für mich ist oder ich davon ganz aufgedreht werde? Diese kleinen Verlangen nehmen viel mehr Raum in unserem Bewusstsein ein als die großen Wünsche und sie verursachen wesentlich mehr Leid.

Wir können zum Beispiel auf Anhieb erkennen, dass ein „großer“ Wunsch wie der, eine Beziehung mit einem Hollywood-Star einzugehen, unrealistisch ist. Wie sehr wir diesen attraktiven Menschen auch gerne in der Realität so lieben würden wie wir ihn oder sie im Kino lieben, wir werden das wahrscheinlich nicht ernsthaft verfolgen. Aber was ist mit einem Menschen, der für uns tatsächlich erreichbar ist? Diesen Menschen können wir vielleicht umgarnen und in unser Netz einspinnen. Es sind diese kleinen realisierbaren Wünsche, die uns in Beschlag nehmen. Sie stammen von den latenten Samen unserer Anhaftung an uns selbst.

Das schätzen, was wir haben

Eine Möglichkeit, außer Kontrolle geratene Wünsche zu reduzieren, ist: das schätzen, was wir haben. Dann müssen wir uns nicht auf die Jagd nach Kleinigkeiten begeben und uns im kleinlichen Ego-Geist verstricken. Und wir machen auch nicht den Fehler zu glauben, dass unsere kleinen Wünsche keine großen oder schmerzlichen Folgen nach sich ziehen. Der Schmerz ist da, sogar in dem Augenblick, in dem wir uns ihnen hingeben  – und als Endresultat bleiben wir verstrickt in den samsarischen Kreislauf des Leidens.

Wenn wir verstünden, welches Debakel wir da letztendlich anrichten, würden wir niemals am Selbst mit all seinen Anhaftungen und Wünschen festhalten. Wir wären wesentlich wachsamer, nicht so naiv, und wir würden alles Machbare unternehmen, um uns davon zu befreien.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Dein Leben liegt in deiner Hand.

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