Die gesellschaftlichen Ursachen achtlosen Essens

Kaum eine biologische Funktion ist für die Lebenserhaltung wichtiger als das Essen, das wir im Gegensatz zu Pflanzen nicht durch Photosynthese aus Licht und Luft Nahrung ziehen können. Das Atmen geschieht zum Glück von selbst, ebenso wie das Schlafen. Doch das Essen verlangt eine gezielte Tätigkeit von uns, sei es beim Anbau, Sammeln, Jagen, Einkaufen, beim Besuch eines Restaurants oder der anderweitigen Beschaffung einer Reihe von Lebensmitteln, die oft erfordern, dass wir oder andere sie irgendwie zubereiten und miteinander kombinieren, um den größtmöglichen Nutzen zu erzielen.
Als Säugetiere verfügen wir über ein komplex aufgebautes Nervensystem, das sicherstellt, dass wir motiviert sind, Nahrungsmittel zu finden und zu essen (Hunger und Durst), und dass wir merken, wann diese Bedürfnisse befriedigt sind und der Körper bekommen hat, was er momentan braucht, um eine Zeitlang bei Kräften zu bleiben (Sättigung).
Doch in unserer postindustriellen Ära sehen wir das Essen allzu oft als etwas derart Selbstverständliches an, dass wir uns völlig achtlos damit beschäftigen und es mit komplizierten psychologischen und emotionalen Problemen beschweren (die Doppeldeutigkeit ist hier Absicht), die einen einfachen, grundlegenden und wunderbaren Aspekt unseres Lebens verdunkeln und bisweilen gravierend verzerren.
Das Wunder der Nahrung genießen
Sogar die Frage, was Lebensmittel wirklich sind, bekommt in einem Zeitalter industrieller Landwirtschaft, maschineller Verarbeitung und ständiger Erfindung neuer „Snacks“ und „Lebensmittel“, die unsere Großeltern nicht als solche erkannt hätten, eine ganz neue Bedeutung. Und durch die starke und manchmal zwanghafte Beschäftigung mit den Themen Gesundheit und Essen in dieser „Schönen neuen Welt“ verfällt man ebenso leicht in einen gewissen „Nutritionism“ (einer Besessenheit bezüglich der Nährwerte von Lebensmitteln). Dieser kann es einem schwer machen, einfach das Essen und all die gesellschaftlichen Tätigkeiten rund um seine Zubereitung sowie das Zubereiten, Verteilen und Feiern des Wunders der Nahrung und das Netz des Lebens, in das wir eingebettet sind und von dem wir abhängen, wirklich zu genießen.
Auf ähnliche Weise sind die Geisteszustände des fehlenden Gewahrseins, der Sucht und der Selbsttäuschung in dieser Welt leider sehr verbreitet und fungieren in gleichem Maße als Zerstörer der geistigen Gesundheit, des Wohlbefindens und der authentischen Beziehung auf jeder Ebene des Körpers, des Geistes und der Welt. Jeder von uns leidet mehr oder weniger stark daran, nicht nur, was Lebensmittel und Essen angeht, sondern hinsichtlich vieler Aspekte unseres Lebens. Es gehört zum Menschsein dazu, in diesem Zeitalter vielleicht noch verstärkt durch den besonderen Stress und Druck unserer von dem Zwang zu permanenter – 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche – Erreichbarkeit, von Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivität und vom Wahn nach Berühmtheit besessenen Kultur.
Eine sanfte Einladung: Achtsam essen
Doch die gute Nachricht lautet, dass man diesen inneren und äußeren Druck auf unseren Geist und Körper und das Leiden, das diese bisweilen ungesunden Einflüsse zur Folge haben, erkennen und gezielt daran arbeiten kann. Davon kann jeder profitieren, der bereit ist, sich zumindest ein wenig der Pflege der Achtsamkeit und der Herzenswärme zu widmen. Das Achtsam essen-Programm ist eine sanfte Einladung, sich an diesem Prozess der Heilung zu beteiligen, und ein weiser Begleiter für Ihre Lebensreise in Ihre eigene Ganzheit.
Nirgendwo sind die Elemente des Menschseins, die wir fehlendes Gewahrsein, Sucht und Selbsttäuschung nennen, heutzutage so schmerzlich und tragisch zu sehen wie in den verbreiteten Störungen unserer Beziehung zu Lebensmitteln und zum Essen. Dieses Ungleichgewicht wird durch viele komplexe Faktoren in der Gesellschaft ausgelöst. Traurigerweise haben sie zu kulturellen Normen geführt, die bestimmte Formen von Selbsttäuschung, Zwängen und ständiger Beschäftigung mit dem Körpergewicht fördern. Dies manifestiert sich als ein nagendes und durchdringendes, wenn auch bisweilen unterdrücktes, verschleiertes oder überkompensiertes Unbehagen und als eine Unzufriedenheit damit, wie der eigene Körper aussieht und wie er sich innerlich anfühlt.
Wie man aussehen sollte
Diese ständige Unzufriedenheit zeigt sich in gewöhnlichen Sorgen über das äußere Erscheinungsbild, wird jedoch gesteigert durch den Wunsch, sich dem idealisierten Modell, wie man aussehen sollte und welchen Eindruck die eigene Erscheinung auf andere machen sollte, anzupassen – Wünsche, welche die Authentizität der eigenen inneren Erfahrung prägen und untergraben.
Diese Unzufriedenheit fördert eine verzerrte Wahrnehmung im Hinblick auf das eigene Körperbild, nach innen wie nach außen. Auch kann es zu tiefgreifenden Störungen des Selbstwertgefühls kommen. Sie wird in großem Maßstab dadurch geschürt, dass wir ständig den Medien ausgesetzt sind, ist sogar unter Kindern und Jugendlichen verbreitet und das ganze Leben lang bis ins hohe Alter präsent.
Dies alles ist unglaublich traurig und erfordert grenzenloses Mitgefühl – auch mit uns selbst – sowie wirksame Strategien zur Wiederherstellung des Gleichgewichts und der Gesundheit in unserer Welt und in unserem individuellen Leben.
Dieser Artikel stammt aus dem Vorwort des Buches Achtsam essen.