Der Weiß-nicht-Geist

Der koreanische Zen-Meister Soen Sa Nim machte uns manchmal mimisch vor, wie man mit dem Kōan an „Was bin ich?“, einer Variante des „Wer bin ich?“, übt. Er setzte sich aufrecht hin, machte ein fragendes Gesicht, saß dann eine kleine Weile mit geschlossenen Augen da und sagte schließlich mit lauter und ziemlich heftiger Stimme: „Was bin ich?“ Er verband alle Silben miteinander, sodass es sich eher anhörte wie „Wassbiniiisch?“. Dann war er einige Augenblicke still und stieß dann, immer noch mit geschlossenen Augen und wiederum ziemlich heftig, hervor: „Weiß nicht!“, was sich anhörte wie „Weisssssnich!“.
Wassbiniiich? Weisssssnich!
Dann verharrte er schweigend in dem, was er den „Weiß-nicht-Geist“ nannte, und saß einfach nur da. Er meinte, es wäre keine schlechte Idee, wenn wir auf diese Weise praktizierten − innerlich, von Zeit zu Zeit in Stille, zunächst mit den Worten, dann aber jenseits der Worte. Das Fragen selbst, das Erforschen des Selbst, die Leidenschaft, die selbst noch hinter dem Ort liegt, woher die Frage kommt – das ist bei dieser Übung das Wichtigste. Und das Gefühl, das man zu guter Letzt hat, nach all dem Forschen, nach allem „nicht dies, nicht dies“, ist ein Gefühl, das unterhalb all der Wechselfälle von Name und Form liegt. Es ist das Gefühl, einfach nicht zu wissen. Und es geht darum, in diesem Nichtwissen zu verweilen, in all seiner Eindringlichkeit, mit vollständiger Akzeptanz und grenzenloser Weite.
Er ermahnte uns, uns in allem, was wir taten, den „Weiß-nicht-Geist“ zu bewahren. „Nur weiß nicht!“, bellte er uns immer wieder an, sodass viele seiner Studierenden die ganze Zeit herumliefen und sagten: „Nur weiß nicht!“, ganz gleich, was man sie fragte oder zu ihnen sagte. Es war irre. Es war unerträglich. Es war ebenfalls großartiges Training.
Eines Tages wurde Soen Sa Nim von einem New Yorker Radiosender interviewt. Am Ende der Sendung sagte der Moderator, der verstorbene Lex Hixon, ein bekannter Buddhismus-Experte und Autor, zu ihm: „Danke Soen Sa Nim, dass Sie da waren. Ich mag Ihre Lehren und es war eine tolle Sendung. Aber eines verstehe ich einfach nicht, und es hat mich während unseres Gesprächs sehr verwirrt. Was hat es mit diesem „Donut-Geist“ auf sich, von dem Sie immer sprechen? Ich versteh’s einfach nicht.“
Soen Sa Nim schüttelte sich vor Lachen: „Ja, genau das ist es: „Donut-Geist“! Nix in der Mitte außer Luft.“
Dieser Text ist erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Juli 2020 und stammt aus dem Buch „Das heilende Potenzial der Achtsamkeit“ von Jon Kabat-Zinn, das im Arbor Verlag erschienen ist.