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Der Pfad und die Eingangstür

Der Pfad und die Eingangstür: Tür
Rachel Naomi Remen

Der Pfad und die Eingangstür

Wohin geht die Reise?

Es fühlt sich sicher an, wenn wir wissen wohin wir gehen und es macht uns vielleicht nervös, wenn wir das Ziel von Beginn an nicht im Blick haben. Aber liegt in diesem Unwissen nicht mehr als nur das Gefühl der Unsicherheit? Und wie verhält es sich mit dem Weg des Lebens - können wir überhaupt immer schon im Vorneherein wissen wohin wir unterwegs sind?

Zwei Möglichkeiten

Als ich einmal mein Haus umbauen ließ, schwankte ich zwischen zwei Möglichkeiten, den Zugang zu meiner Haustür zu gestalten. Die eine Möglichkeit bestand darin, eine Treppe bauen zu lassen, die von der Straße aus ansteigend in einen Pfad mündet, der direkt zu meiner Haustür führt. Von dem Moment an, wo man den Fuß auf die erste Stufe setzt, kann man die Haustür sehen und weiß genau, wohin man geht.

Die zweite Möglichkeit war ganz anders. Man tritt durch ein Tor und geht wenige Stufen zu einer kleinen Plattform hinauf. Hinter dieser Plattform steht ein schöner Baum. Geht man die Stufen hinauf, dann sieht man nur diesen Baum. Auf der Plattform angekommen, sieht man, dass sie in eine kleine Terrasse übergeht, die von einem Rosengarten eingefasst ist, und wenn man über die Terrasse geht, findet man eine weitere, ziemlich steile Treppe, die nach rechts hinaufführt. Die oberste Stufe liegt über Augenhöhe, und wenn man die Treppe hinaufgeht, sieht man nichts, bis man oben auf einer weiteren Plattform ankommt, von wo aus man, wenn man nach rechts schaut, über einhundert Kilometer hinweg einen atemberaubenden Blick über die Bucht von San Francisco hat.

Überquert man diese Plattform, kommt man zu einigen flachen Stufen, die nach links hinaufgehen. An ihrem Ende findet man sich unerwartet auf einer kleinen Wiese wieder, die meinen Hinterhof darstellt; dahinter steigt die wunderbare Silhouette des Mount Tamalpais, des höchsten Berges in unserem Landkreis, auf. Erst jetzt sieht man meine Eingangstür, die nur noch wenige Schritte entfernt ist. Man hat sich ständig darauf zubewegt, ohne das jedoch die ganze Zeit zu merken.

Von Anfang an sehen, wohin man geht

Während ich noch zwischen diesen beiden Möglichkeiten schwankte, konsultierte ich zwei Architekten. Beide erklärten mir, eines der Grundprinzipien der Architektur von Vordereingängen sei es, dass die Leute von Anfang an sehen müssten, wohin sie gingen. Beide waren sich darin einig, dass die Unübersichtlichkeit des zweiten Weges bei Gästen, die mich zum ersten Mal besuchten, ein Gefühl der Unsicherheit erzeugen würde. Trotz der Übereinstimmung dieser beiden Expertenmeinungen entschloss ich mich schließlich für die zweite Möglichkeit.

Wenn ich heute darüber nachdenke, dann scheint es mir, dass zu wissen, wohin wir gehen, uns dazu verleitet, nicht mehr genau hinzusehen und hinzuhören, und uns einschlafen lässt. Wenn ich mich auf einem derart geraden Pfad wiederfinde, dann läuft ein Teil von mir bereits voraus zur Eingangstür, sobald ich sie sehe. Indem ich mich beeile, diesen Teil einzuholen, nehme ich die Dinge, an denen ich vorübergehe, meist nicht wahr.

Wenn wir nicht wissen, wohin wir gehen, dann erzeugt das mehr als nur ein Gefühl der Unsicherheit. Wir werden dazu angeregt, uns lebendiger zu fühlen, die Einzelheiten um uns herum deutlich wahrzunehmen. Diese Unsicherheit weckt uns auf, genauso, wie uns eine Krankheit aufwecken kann. So entschloss ich mich für die zweite Möglichkeit.

Das wirkliche Ziel

In der Tat ist es wohl so, dass wir nur glauben zu wissen, wohin wir gehen, während wir die ganze Zeit ganz woandershin unterwegs sind. Ich habe oft genug viel getan, um ein mir wichtiges Ziel zu erreichen, nur um mit der Zeit herauszufinden, dass das wirkliche Ziel, zu dem meine Entscheidungen mich hingeführt haben, etwas ganz anderes war, etwas, von dem ich noch nicht einmal wissen konnte, dass es existiert, als ich den ersten Schritt auf dem Pfad machte. Der unserem Leben zugrunde liegende Zweck trägt oft die Maske dessen, dem wir zu einer bestimmten Zeit unsere Aufmerksamkeit zukommen lassen.

Der wahre Zweck, zu dem wir geboren sind, unsere größte Segnung oder unsere Art und Weise zu dienen, kann im Gewand eines neuen Autos, einer Chance zu reisen oder einer Tasse besten Kaffees in unser Leben treten. Die Wahrheit ist, dass wir ständig auf das Mysterium zugehen, und deshalb sind wir dem, was wirklich ist, sehr viel näher, wenn wir unser Ziel nicht klar vor Augen haben.

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Aus Liebe zum Leben.

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