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Dem eigenen Stern folgen

Lienhard Valentin und Katharina Martin: Dem eigenen Stern folgen
Katharina Martin und Lienhard Valentin im Gespräch über den inneren Kompass

Dem eigenen Stern folgen

Loslassen und zulassen, für einen Kontakt des Herzens ohne Kontrolle

Lienhard Valentin: Liebe Katharina, als wir vor über 30 Jahren den Verein „Mit Kindern wachsen“ gegründet und unsere ersten Ausbildungen entwickelt haben, hatten wir vor allem eines in Blick: Eltern dabei zu unterstützen, Vorstellungen loszulassen und Vertrauen in die eigene Kraft zu entwickeln. Diese innere Ausrichtung steht auch heute noch im Fokus des „Elternkompasses“. Das Wesentlichste, das ich von dir gelernt habe, ist allerdings: Die Antworten auf fast alle Elternfragen liegen in der inneren Verbundenheit von Eltern und Kindern. 

 

Kathrina Martin: Dazu fällt mir ein Bild ein, das Bild eines Lichtfunkens. Mein großes Anliegen war und ist, dass dieser Funke in der Kindheit nicht ausgelöscht wird, sondern dass die Kreativität, Genialität und Lebensfreude der Kinder durch den Kontakt zu ihren Bezugspersonen genährt werden und ihre Lebenskraft nicht erstickt wird. In der Gestaltarbeit sprechen wir von uns selbst als einem Feld, in dem Wachstum stattfindet. Es bietet Geborgenheit, Schutz, Ausrichtung. Gleichzeitig ist es offen und durchlässig. Jedes Kind kann von dort ins Offene gehen, mit guten Ansätzen und Samen. Der sichere Nährboden ermöglicht, dass es seinen individuellen Weg gehen und seinem Stern folgen kann.  

 

Lienhard Valentin: Dem „inneren Bauplan der Seele“, wie es Maria Montessori genannt hat. Für mich ein Geheimnis, dem wir uns durch unsere innere Haltung nähern können.

 

Kathrina Martin: Wir können nie gänzlich wissen, was ein Kind in sich trägt, in jedem Fall aber eine verborgene, innewohnende Weisheit über seine Bestimmung, den Lebensweg und die eigenen Sehnsüchte. Sie kann sich mit dem Wachstum entfalten und sich einer Aufgabe verschreiben. Das elterliche Feld ist auch ein Wissen. Es ist bereits durch das geprägt, was wir von unseren eigenen Eltern und in der Gesellschaft gelernt haben. Unser Wissen ins Offene, unsere Intuition, bietet allerdings immer noch Zugang zu einem größeren Feld. Mit ihm können wir uns jederzeit verbinden und merken: „Ah, das Kind mag jetzt keine Leberwurst, dann bekommt es jetzt einen Apfel.“ Die verschiedenen Wissensfelder arbeiten nur in Verbindung miteinander und dadurch, dass die Dinge offen bleiben – im wertfreien Vertrauen, dass schon etwas kommen wird. 

 

Lienhard Valentin: Ein guter Weg, diese empfängliche Haltung zu kultivieren, ist die Achtsamkeitspraxis. In diesem Seinsmodus kann uns im wahrsten Sinne des Wortes etwas „einfallen“.  

 

Kathrina Martin: Wenn wir uns mit allen Wissensfeldern verbinden, auch dem „großen“, haben wir die Grundlage, auch mal etwas riskieren zu können. Brauche ich wirklich sehr früh Betreuung für mein Kind, oder folge ich da nur dem, was alle machen? Wie fühlt es sich an, wenn ich einen anderen Weg gehe?

 

Lienhard Valentin: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es hilfreich ist, den Bewertungsmaßstab nach innen zu verlegen. Beim Blick in die ferne Zukunft – die jetzt auf einmal da ist (lacht) – habe ich mich oft gefragt: Wessen Leben möchte ich eigentlich leben? Wenn es mein eigenes ist, mache ich wenigstens auch meine eigenen Fehler, ohne geht es ja nicht. „Scheitere“ ich allerdings gegen mein eigenes Gefühl, ärgere ich mich doppelt. Die Angst, etwas „falsch“ zu machen, ist bei Eltern ja überdurchschnittlich groß. Denn wo wollen wir auf keinen Fall Fehler machen? Bei unseren Kindern. 

 

Kathrina Martin: Diese sogenannten „Fehler“ sind Sonderformen für Rückmeldungen des Lebens: „Aha, hier kommt ein anderes Element dazu. Das ist ungünstig, das lassen wir weg.“ Ohne sie müssten wir hier im Leben ja gar nicht erst antreten. Ich denke, dass das ganze Leben ein Lernfeld ist, und lernen zu dürfen ein Glücksfaktor. Ich persönlich lerne sehr, sehr gerne. 

 

Lienhard Valentin: Es ist etwas anderes als das schulische Lernen, es ist das tiefe innere Bedürfnis, über sich selbst hinauszuwachsen – etwas, das jedem Menschen innewohnt.

 

Kathrina Martin: Ja, sich zu entwickeln und das, was an Möglichkeiten da ist, zu entfalten. Dabei können wir es gerne auch mal anders machen und Originalität wagen. Da können wir von Kindern lernen, die die Erbsen auch mal mit der umgedrehten Gabel in den Mund schieben. Man muss nicht immer alles wissen. Wir schauen halt. Oder fragen jemanden. 

 

Lienhard Valentin: Das kann die gesamte Atmosphäre in der Familie prägen. Sie zählt für mich viel mehr als vermeintlich „richtige“ Antworten.

 

Kathrina Martin: Nicht wissen zu müssen nimmt nicht die Autorität. Vielmehr ist es die menschliche Qualität in jedem Feld: Nicht alles zu wissen, sondern lebendig zu sein und ein warmes Herz zu haben. Es ist wichtig, dass es ein tragendes Feld gibt, eines der bedingungslosen Annahme. Dann wissen Kinder: Hier gehöre ich hin, und egal, was ich mache, ich verliere die Liebe nicht. Wir sind alle fragile Wesen und können nicht alles wissen. Diese Verbundenheit im Nicht-Wissen ist eine nette Erfahrung. 

 

Lienhard Valentin: Diese Art von Warmherzigkeit im offenen Raum habe ich in der Gestaltausbildung bei dir zum ersten Mal kennengelernt – zumal mein Grundgefühl beim Aufwachsen eher war, dass meist etwas nicht stimmte. Freundschaft mit mir selbst schließen zu können hat bei mir einen tief sitzenden Druck gelöst.  

 

Kathrina Martin: Eine sehr feine Grundqualität, die vieles ermöglicht. Dann sprudelt etwas: mehr Mut, Stärke, Resilienz, ein Basisbrunnen, der immer nährt. Für mich liegt das Herz der ganzen essentiellen Gestaltpädagogik in der grundsätzlichen Annahme und Wertschätzung der menschlichen Existenz, der eigenen und der der anderen, auch in der Erkenntnis eines grundsätzlichen Gutseins. Lebensfreude ergibt sich aus dem Glück, überhaupt hier zu sein und den Lebensraum mit vielen anderen teilen zu können. 

 

Lienhard Valentin: Ja, wir brauchen einander. Um mit Daniel Siegel zu sprechen: Gehirn, Geist und Beziehungen beeinflussen sich gegenseitig. Ich weiß noch, wie ich in den ersten Sitzungen mit dir ganz viel erzählte, von dem ich glaubte, dass es „angebracht“ sei. Und du hast anschließend einfach gefragt: „Was von dem, das du erzählt hast, ist wirklich da? Womit wollen wir arbeiten?“ Da wich meine Aufregung tiefer Ruhe und der fast unglaublichen Erfahrung, einfach in einem wohlwollenden Raum zu sein und nichts tun zu müssen. 

 

Kathrina Martin: Diese Perspektive lässt sich auch auf die Kinder anwenden: Wir müssen sie nicht (er)ziehen. Sie wachsen von sich aus und wollen ihr Inneres verwirklichen. Wir müssen ihnen nicht sagen: Jetzt wachs mal! Nötig ist die Herzensverbindung. Wenn wir sie zulassen, statt Macht auszuüben, entfaltet sich das Leben. Diese Haltung lässt sich lernen und üben, und es ist eine Freude, sie zu erfahren. Von Herz zu Herz. Für mich ist das Glück. 

 

Katharina Martin entwickelte die essentielle Gestaltarbeit, die es sowohl Kindern, als auch Erwachsenen ermöglicht, ihre ursprüngliche Natur (wieder) zu entdecken. Außerdem entwickelte sie die Fortbildungsreihe "Mit Kindern neue Wege gehen - Grundlagen der Gestalt-Arbeit im Leben mit Kindern" sowie das Programm Metaqualitäten, das Psychotherapie und Spiritualität verbindet.

Lienhard Valentin ist ein international bekannter Achtsamkeitslehrer, Gestaltpädagoge, zertifizierter MSC-Lehrer (Mindful Self-Compassion) und Buchautor. Er gründete den Arbor Verlag, den Verein Mit Kindern wachsen und die Arbor Seminare gGmbH. Sein Schwerpunkt liegt in der Integration von Achtsamkeit und Mitgefühl ins tägliche Leben – vor allem auch von Eltern und Pädagogen.

 

Dieser Text ist erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Januar 2022

 

Das komplette Gespräch zwischen Katharina Martin und Lienhard Valentin gibt's als kostenloses Audio im Arbor Online Center: „Der innere Kompass“

Im Mai 2022 bietet Arbor Seminare die Möglichkeit zur Begegnung mit Katharina und Lienhard im Seminar „Zugang zum inneren Kompass finden“

 

 

 

 

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Wir wollen unsere Kinder bedingungslos annehmen. Können wir das auch mit uns selbst?

Es gibt in unserer Kultur etwas, das uns schon fast wie eine Art Volksseuche oder eine Art böser Fluch verfolgt. Nein, ich rede jetzt nicht über Corona oder andere Krankheiten. Ich meine das Gefühl oder zumindest die dunkle Ahnung, nicht gut genug zu sein.

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Übung zur Entwicklung von Verbundenheit und Intuition

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