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Auch Buddha hatte „Helikoptereltern“

Christopher Willard: Auch Buddha hatte „Helikoptereltern“
Christopher Willard

Auch Buddha hatte „Helikoptereltern“

Gedanken zum Begriff der „Sicherheit“

Wo könnte ich genug Leder finden, 
um die ganze Erde damit zu bedecken? 
Aber mit Ledersohlen unter meinen 
Füßen ist es, als wäre die ganze Erde bedeckt worden.

Shantideva

Viele von uns versuchen bis zur Erschöpfung, eine vollkommen sichere Welt für ihre Kinder zu schaffen. Wir können unsere Energie aber klüger einsetzen: Indem wir sie lehren, wie sie in einer Welt, die manchmal erschreckend und gefährlich ist, sicher bleiben. 

Bestimmt haben Sie die folgenden Begriffe schon einmal gehört und vielleicht sogar auf andere oder sich selbst angewandt: Helikoptereltern (Eltern, die ständig um ihre Kinder kreisen), Schneepflugeltern (Eltern, die ihren Kindern auf dem Weg zum Erwachsenwerden alle Hindernisse aus dem Weg räumen), überbehütete Teenager und so weiter. Doch trotz verstärkter elterlicher Einmischung und bester Absichten sind unsere Kinder unsicherer geworden und weniger vorbereitet auf eine Welt, die heute sogar ungefährlicher ist als die, mit der es frühere Generationen zu tun hatten. Obwohl wir sehr viel Mühe aufwenden, demonstrieren wir nicht den weisen Einsatz unserer Energie, den der buddhistische Mönch Shantideva im Eingangszitat empfiehlt. 

Gesunde Risiken eingehen und unsichere Situationen meistern

In vielerlei Hinsicht haben wir tatsächlich eine Welt geschaffen, die sicherer ist als je zuvor: Die Böden unserer einst gefährlichen Spielplätze haben wir mit Gummi bedeckt, Fahrradhelme, Sicherheitsgurte und Airbags sind inzwischen die Norm, Sicherheitshinweise zur Vermeidung von Allergien schützen unsere Kinder und Schulreformen zur Anpassung an verschiedene Lernstile und Fähigkeiten haben dazu beigetragen, dass mehr Kinder effektiver lernen können. Und doch sind sowohl Eltern als auch Kinder ängstlicher als je zuvor, und Eltern, die ihre Kinder allein zum Spielplatz gehen lassen, können schon mal mit einem Besuch der Polizei rechnen. 

Aber der Versuch, die Welt mit einer Schutzschicht aus Gummi (oder Leder) zu überziehen, ist nach hinten losgegangen. Ein kürzlich in der New York Times erschienener Artikel deckte auf, dass eine Überbewertung der Sicherheit auf modernen Spielplätzen dazu geführt hat, dass Kinder normale Risiken nicht mehr so gut einschätzen und von echten Gefahren unterscheiden können. Langfristig sind sie so gefährdeter. Viele von uns hatten einst Spaß an Wippen, hohen Metallrutschen und von Hand zusammengezimmerten, wackligen Baumhäusern. Aber wie viele davon sieht man heute noch? 

In der Psychologieforschung ist man inzwischen überzeugt, dass Kinder regelmäßig mit moderaten Gefahren konfrontiert sein müssen, gesunde Risiken eingehen und unsichere Situationen meistern müssen, bei denen sie sich Blessuren und aufgeschürfte Knie holen könnten. Nur so können sie real existierenden Risiken und auftauchenden Herausforderungen begegnen und sie einschätzen. Früher wurde befürchtet, dass Kinder, die von einem Holzklettergerüst fallen und sich einen Arm brechen, unweigerlich Höhenangst entwickeln würden (und ihre Gemeinden Angst vor juristischen Klagen bekämen). Aber wir wissen inzwischen, dass ein Kind unter neun Jahren, das einen Sturz aus nicht unbedeutender Höhe erlebt, in Wirklichkeit mit geringerer Wahrscheinlichkeit eine Höhenangst entwickelt.

Am Ende entwickeln sich unsere Kinder nie so, wie wir es geplant haben

Kinder brauchen die Konfrontation mit entwicklungsgemäßen Ängsten und Enttäuschungen, um sie verarbeiten zu können und stärker zu werden. Ein bekannter Sinnspruch lautet: „Der Charakter entwickelt sich nicht in Bequemlichkeit und Ruhe.“ Die meisten von uns wissen intuitiv, dass das wahr ist: Unsere Kinder brauchen etwas Stress, damit sie ihre persönlichen Stärken entwickeln und direkt aus der Überwindung von Schwierigkeiten lernen können. Es spielt keine Rolle, wie stark wir in das Leben unserer Kinder eingreifen und wie viele Schutzwälle wir aufbauen: Es wird sie als Siebenjährige nicht vollkommen vor aufgeschürften Knien, als Jugendliche nicht vor gebrochenen Herzen und schlechten Noten und als Erwachsene nicht vor rücksichtslosen Mitbewohnern und abgelehnten Bewerbungen bewahren. 

Ich habe mit Eltern gearbeitet, die die Tage ihrer Teenager in 15-Minuten-Schritten planten oder die Wege ihrer Collegestudenten per GPS überwachten. Obwohl ich glaube, dass diese Eltern nur das Beste für Ihre Kinder wollen, treiben sie es eindeutig zu weit. Auch wenn das Extreme sein mögen – seien wir ehrlich: Die meisten von uns hatten schon solche Momente. 

Was bringen diese Bemühungen? Was ist das Resultat dieser Überbehütung und Überfürsorglichkeit? Studien weisen darauf hin, dass sogenannte „Helikopter“-Erziehungsstile Kindern vielleicht physische und emotionale Sicherheit bieten, dass sie aber auch mit einer erhöhten Rate an Depressionen und Angststörungen, reduzierter Handlungskompetenz und geringerer Lebenszufriedenheit korrelieren. 
Am Ende entwickeln sich unsere Kinder nie so, wie wir es geplant haben. 

Buddha uns seine ultimativen Helikoptereltern

Es gibt viele spirituelle Geschichten, die diese Tatsache veranschaulichen, vom verlorenen Sohn bis hin zum Buddha. Schauen wir uns Buddha an, Siddhartha Gautama, der in eine königliche Familie hineingeboren wurde – mit ultimativen Helikoptereltern. Noch vor seiner Geburt sagte ein Orakel voraus, dass er dereinst entweder ein ruhmreicher politischer Führer oder ein spiritueller Lehrer werden würde. Natürlich hoffte sein Vater, dass sich die erste Option bewahrheiten würde, und so umgaben Siddharthas Eltern den Jungen mit einer ausgeklügelten, komfortablen Glasglocke der Sicherheit. Sie überhäuften ihn mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten und Vergnügungen. Und sie verboten ihm, den sicheren, von hohen Mauern umgebenen Palast zu verlassen. 

Doch der junge Mann wurde neugierig und fragte sich, was außerhalb der Palastmauern vor sich ging. Er überredete eine Dienerin, ihn hinaus in die Stadt zu führen, und stieß sofort auf eine Welt voller Leiden. Bei seinem ersten Ausflug in die Stadt erblickte er einen hilflosen, gebrechlichen alten Mann und beim nächsten begegnete er einem offensichtlich kranken, niedergeschlagenen Menschen. Als er zum dritten Mal den Palast verließ, sah er eine Familie, die den Leichnam eines geliebten Familienangehörigen trug. Jede dieser Begegnungen verstörte Siddhartha zutiefst, und er begann, über die unvermeidlichen Leiden von Alter, Krankheit und Tod nachzudenken. Schließlich beschloss der junge Prinz, etwas zu tun. Er verließ den Palast für immer, verzichtete auf seinen Status und seinen Besitz und wurde zu einem wandernden Asketen. Falls Sie die Geschichte kennen, wissen Sie, dass diese totale Entsagung für Siddhartha letztendlich auch nicht so gut funktionierte. Nur weil er schließlich einen Mittelweg wählte, erlangte er die Erleuchtung. 

Wir können uns vorstellen, wie die Kinderfrau den Jungen aus dem ummauerten Palast in ihr Stadtviertel führte und wie sehr ihn schockierte, was er dort sah. Vielleicht kennen wir auch das Kind, das auf die Universität oder ins Ausland geht und radikalisiert zurückkehrt, seine Eltern und seine Erziehung ablehnt und dann in mittleren Jahren auf den Mittelweg einschwenkt. Vielleicht erinnere ich mich hier auch nur an mein eigenes jüngeres Selbst…

Sie vorbereiten und mit den Werkzeugen ausstatten, die sie brauchen, um in der Welt zurechtzukommen

Buddhas Geschichte enthält eine ganze Reihe von Lebenslektionen, aber betrachten wir einmal die nützlichste Botschaft für uns Eltern: Wie sehr wir uns auch anstrengen, unsere Kinder werden und müssen ihren eigenen Weg finden. Trotz unserer besten Absichten, sie zu beschützen, werden sie irgendwann dem Leiden begegnen. Aber wie sie mit Schwierigkeiten und Hindernissen umgehen – ob sie dagegen kämpfen, flüchten oder sie annehmen und transformieren –, hängt bis zu einem gewissen Grad von uns ab. Wir können sie nicht vor jedem Schmerz, mit dem sie konfrontiert werden, bewahren. Aber wir können – und müssen – sie vorbereiten und mit den Werkzeugen ausstatten, die sie brauchen, um in der Welt zurechtzukommen. Wie würde die Welt aussehen, wenn unsere größten spirituellen Lehrer oder Philosophen nie das Leiden kennengelernt hätten? 


Dieser Text stammt aus Christopher Willards aktuellem Buch „Achtsam und stark fürs Leben“, das im Arbor Verlag erschienen ist. 

 

Erschienen in der Zeitschrift „Mit Kindern wachsen“, Ausgabe: Heft Juli 2019

 

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