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Achtsamkeit als grundlegende Haltung des Therapeuten

Achtsamkeit als grundlegende Haltung des Therapeuten: Seifenblasen
Thomas Bien

Achtsamkeit als grundlegende Haltung des Therapeuten

Eine Vorbereitung darauf, in der Psychotherapie präsent zu sein

Während die traditionelle Ausbildung für Psychotherapeuten die Aneignung von Grundwissen und einer Reihe von Techniken beinhaltet, legt sie bisher wenig Wert auf die Kultivierung einer Einstellung, die der therapeutischen Beziehung und dem Therapie-Erfolg förderlich ist. Der Buddhismus wiederum ist eine 2500 Jahre alte Tradition, die sich seit Jahrhunderten der geistigen Schulung widmet. Eigentlich wird dem Sanskritwort dhyana, oft als „Meditation“ übersetzt, die weiter gefasste „geistige Schulung“ besser gerecht. Achtsamkeit ist eine Form dieser geistigen Schulung. In vielerlei Hinsicht ist sie tatsächlich die zentrale Form der geistigen Schulung im Buddhismus.

Um den Wert der Achtsamkeit richtig einzuschätzen, kann ein Verständnis des metaphysischen Hintergrundes dieser Praxis hilfreich sein. Das alte Indien kennt als Bild für die Natur des Universums das „Netz des Gottes Indra“. An jedem Knotenpunkt von Indras Netz sitzt ein Juwel, und jedes Juwel reflektiert jedes andere. Mit anderen Worten, dies ist ein Bild eines holographischen Universums, in dem jeder Teil jeden anderen enthält. Es ist ein Universum, das nicht-dualistisch ist, das letztendlich nicht in Einzelteile zerlegt werden kann. Aus diesem Grunde heißt im buddhistischen Denken eine Zeit tief berühren alle Zeiten berühren, heißt ein Ding tief berühren alle Dinge berühren. Die buddhistische Lehre funktioniert genauso, so dass die verschiedenen Praktiken letztendlich nicht als separat, sondern als in der Tiefe miteinander verbunden betrachtet werden.

In seiner ersten Unterweisung beschrieb der Buddha acht Glieder oder Aspekte der Praxis, der „Edle Achtfältige Pfad“ genannt. Ich will nicht alle diese Aspekte aufzählen, nur zwei, „Rechte Rede“ und „Rechte Achtsamkeit“. „Rechte Rede“ ist ein Sprechen, das wahr und freundlich ist, Übertreibungen vermeidet und keine Gerüchte in die Welt setzt. Aber man kann „Rechte Rede“ letztendlich von „Rechter Achtsamkeit“ nicht trennen. Man wird „Rechte Rede“ nicht praktizieren können, wenn man nicht achtsam ist. Und wenn man achtsam ist, wird man irgendwann auf diese Art und Weise sprechen.

Eine bestimmte Art von Präsenz

Wir versuchen manchmal, die verschiedenen Komponenten guter Therapie zu isolieren: welche Art von Aussagen Therapeuten treffen, welche Fragen sie stellen, wie sie sie stellen, der Ton der Stimme, Nachdenken, Bestätigung, therapeutische Grenzen, wann und wie man Veränderungsstrategien anbietet, welche Strategien man anbietet und vieles mehr. Um unterrichten zu können, muss man das Verhalten eines geschulten Therapeuten notwendigerweise in solche Komponenten zu zerlegen versuchen. Das ist unvermeidlich.

Dennoch wurzeln all diese Handlungsweisen in einer bestimmten Art von Präsenz – einer Präsenz, die die Absicht beinhaltet, auf eine bestimmte Weise zuzuhören, jedes Zufügen von Schaden zu vermeiden und voll präsent zu sein. Genauso wie der Buddha jedoch über „Rechte Rede“ sprach, sprach er auch über Achtsamkeit als die Art von Bewusstheit, die all diesen anderen Praktiken zugrunde liegt. Angesichts der Wichtigkeit der allgemeinen Faktoren in der Therapie könnte der Versuch sinnvoll sein, die Art von Einstellung zu vermitteln, die therapeutisch ist, die Haltung, wenn man so will, des Therapeuten. Und genauso wie Achtsamkeit die anderen Praktiken im Buddhismus umfasst, kann Achtsamkeit eine nützliche Art und Weise sein, sich die grundlegende Haltung des Therapeuten vorzustellen, die alles, was der/die Therapeut(in) tut, umfasst und trägt.

Die Vier Unermesslichen Denkweisen

Eine buddhistische Lehraussage, die zur Achtsamkeit im interpersonellen Kontext direkten Bezug hat, ist die von den Vier Unermesslichen Denkweisen oder brahmaviharasBrahma ist ein Sanskritwort für Gott, und ein vihara ist ein Aufenthaltsort oder ein Wohnsitz. Sich in den Vier Unermesslichen Denkweisen zu üben heißt mit anderen Worten, in der göttlichen Welt zu weilen, der Welt, die manche Buddhisten auch das Reine Land des Buddha nennen. Eine Beschreibung dieser Praxis mit solchen Begriffen deutet auf große Wertschätzung für ihren transformativen Wert hin, der einen tiefgreifenden Wandel in der Wahrnehmung einleitet, so dass die gewöhnliche Welt des Kummers und der Verblendung (samsara) sich als eine Welt der Seligkeit (nirvana) entpuppt.

Die Vier Unermesslichen Denkweisen sind Liebe (Pali: metta, Sanskrit: maitri), Mitgefühl (in beiden Sprachen: karuna), Freude (mudita) und Gleichmut (Pali: upekkha, Sanskrit: upeksha). Obwohl diese Begriffe für wissenschaftliche Ohren sanft und poetisch klingen mögen, haben sie doch ganz präzise Bedeutung und schließen gewisse Übungen und mentale Schulungen mit ein, statt lediglich emotionale Zustände zu bezeichnen.

Die Fähigkeit, Freude und Glück zu schenken

Liebe bedeutet in diesem Kontext die Fähigkeit, Freude und Glück zu schenken. Zu beachten ist, dass damit nicht die bloße Absicht, Freude und Glück zu schenken, gemeint ist. Die Absicht mag ein Anfang sein, aber sie genügt nicht. Es geht auch um die Fähigkeit, Freude und Glück zu schenken, was bedeutet, dass man auch das dazu erforderliche Können besitzt.

Metta wird in Abgrenzung zur romantischen Liebe, die von einem buddhistischen Standpunkt aus mehr eine Abhängigkeit ist als echtes metta, manchmal als „liebevolle Güte“ übersetzt. Das Sanskritwort maitri hat denselben Stamm wie das Wort für Freundschaft, was einen weiteren Hinweis auf seine Bedeutung liefert: Es ist die Art Liebe, die man für einen Freund hat.

Die Fähigkeit, Leiden zu lindern

Mitgefühl ist hier die Fähigkeit, Leiden zu lindern. Wieder umfasst das sowohl Können als auch Absicht. In diesem Sinne geht es beim Schenken von Mitgefühl nicht bloß darum, ein Gefühl der Traurigkeit im Hinblick auf die Schwierigkeiten des Klienten zu haben. Eigentlich ist unser englisches Wort „compassion“ keine sehr gute Übersetzung der buddhistischen Idee, da compassion (lat. com = mit + passio = leiden) impliziert, dass man mit dem anderen Menschen leidet. In der buddhistischen Karuna-Übung ist es jedoch nicht nötig, soviel Traurigkeit für einen anderen Menschen zu fühlen, dass man für ihn leidet, als ob man ihm damit etwas Gutes täte. In diesem Sinne ist es eher wie die Arbeit eines Arztes, der ein hilfreiches Rezept oder eine Behandlung anbietet. Einem engagierten Arzt kann sehr viel an einem Patienten liegen, aber um ihm Heilung zu bringen, braucht er nicht unbedingt mit ihm zu leiden.

Um Liebe zu geben, um Freude und Glück zu geben, muss Verständnis da sein. Jemandem eine Rap-Platte zu schenken, dem diese Musik unangenehm ist, ist nicht metta. Solch ein Handeln lässt ein wirkliches Verstehen des anderen Menschen und dafür, was ihn glücklich macht, vermissen. Solch ein Geschenk ist im besten Falle ungeschickt.

In ähnlicher Weise muss der Therapeut, um einem Klienten Freude und Glück zu schenken, eine klare und gründliche Wahrnehmung haben, wer dieser Mensch ist und wie die Dinge in jedem neuen Moment des sich ständig wandelnden Therapieprozesses stehen. Aus dieser Wahrnehmung heraus wird ein Therapeut nicht stur nach Schema F irgendeine Technik anbieten, sondern das, was dieser Mensch in dieser Situation braucht. In manchen Fällen, vielleicht in vielen Fällen, wird das helfen. Zum Beispiel ist viel öfter, als wir denken, nachdenkliches Zuhören der beste Weg, Glück zu schenken und Leiden zu lindern. Zu häufig meinen wir, wir müssten etwas tun, müssten interpretieren, eine Übung vorschlagen oder einen Plan, wo in Wirklichkeit unsere Präsenz und unser Zuhören mehr helfen würde. Allerdings gibt es auch Zeiten, wo es unempathisch und lieblos wäre, konkrete Informationen oder Ratschläge zurückzuhalten. Ein gut eingestimmter Therapeut ist in solchen Dingen nicht rigide oder doktrinär und verwechselt nicht Technik mit Einstellung, sondern fließt mit den wechselnden Strömungen der therapeutischen Begegnung mit.

Die Fähigkeit, zusammen zu lachen und gemeinsam Leichtigkeit zu genießen

Die dritte Unermessliche Denkweise ist Freude. Mudita wird manchmal als „Mitfreude“ übersetzt, um den Zusammenhang mit dem Glück anderer klarzumachen. Aber im Kontext eines nicht-dualistischen Standpunktes, der weiter oben mit der Metapher von Indras Netz beschrieben wurde, ist solch eine Beschreibung zu restriktiv. In der sich gegenseitig durchdringenden, tiefgründig miteinander verbundenen Welt des Nicht-Selbst ist es nicht nötig, zwischen der eigenen Freude und der Freude eines anderen Menschen zu unterscheiden. Es ist durchaus sinnvoll, wenn wir die natürliche Tendenz, unser eigenes Erleben im Blick zu behalten, mit einer gezielten Bemühung kompensieren, die Freuden anderer wahrzunehmen, aber es ist wichtig, dass wir auch mit unserer eigenen Freude in Kontakt sind.

Im Kontext einer Therapie ist Freude ein wichtiges Element, wenn auch eines, das in vielen Büchern über Therapie nicht ausdrücklich erwähnt wird. Freude bedeutet hier zuerst einmal, dass in der therapeutischen Begegnung immer wieder eine gewisse Leichtigkeit herrschen kann. Während man natürlich darauf achten muss, dass man den Kontakt mit dem innerlichen Zustand des Klienten nicht verliert, darf es in der Psychotherapie trotzdem Witze geben, Geschichten und Lachen, auch wenn über ernste und traurige Dinge gesprochen wird. Freude hat auch damit zu tun, dass wir das Zusammensein mit unseren Klienten genießen.

In manchen Sitzungen können Therapeuten und Klienten unglaublich schmerzhafte Verluste und Schwierigkeiten besprechen und trotzdem zusammen lachen und gemeinsam einen Moment der Leichtigkeit genießen, bevor sie wieder in eine trübere Stimmung geraten. Ich hörte einmal von einem Therapeuten, der über das Telefon einen Selbstmord verhinderte, indem er den Klienten mit „Klopf-Klopf“-Witzen zum Lachen brachte. Die Geschichte mag nicht verbürgt sein, und da sie eine scheinbar unempathische Reaktion auf die Not des Klienten beinhaltet, würde ich sie auch nicht als generelles Verfahren empfehlen. Dennoch weist sie auf etwas Wichtiges hin: dass auch Lachen und Humor ihren Platz haben. Durch solche Mittel zeigen wir die Perspektive auf, dass, so wie Lachen und Humor immer traurige Elemente enthalten, es andererseits in finsteren Zeiten auch heitere Elemente geben kann. Wir müssen nicht in der Falle einer bestimmten Laune oder emotionalen Atmosphäre sitzen. Im Gegenteil, vielleicht würdigen wir sie mehr, wenn wir nicht völlig in ihr untergehen.

Ohne Freude verdorren wir

Während jeder Therapeut wohl bereit ist, die Welt seines Klienten zu betreten, um seine oder ihre Kümmernisse und Schwierigkeiten zu verstehen, betrachten wir es oft nicht als unsere Arbeit, auch tief in die Freuden und Glücksfälle seiner oder ihrer Situation einzutauchen. Und doch ist das genauso wichtig. Ohne die Energie der Freude ist es schwer, den herben Attacken unserer Lebensprobleme zu widerstehen. Es ist Freude, was uns ermöglicht, mit dem Kummer in Berührung zu sein und nicht in ihm unterzugehen. Wenn wir therapeutische Spiegel sein und unseren Klienten ein Verständnis für ihre Schwierigkeiten widerspiegeln wollen, dann können wir auch Spiegel sein, die ihre Freuden spiegeln, von denen wir uns genauso tief und vollständig berühren lassen. Geteilte Freude wird vervielfacht und kann die Widerstandskraft eines Klienten angesichts schmerzhafter Schwierigkeiten steigern.

Wenn wir eine dualistische Kluft zwischen unserer eigenen Freude und der Freude von anderen vermeiden wollen, dann bedeutet Freude auch, dass wir als Therapeuten in Kontakt mit dem sein müssen, was Freude in unser eigenes Leben bringt. Ohne Freude kann es sein, dass wir gegenüber dem Schmerz eines Klienten zu distanziert sind und unfähig, ihn zu ertragen, weil unser eigenes Leben so kummervoll ist. Es ist der Unterschied zwischen einer Pflanze, die am Tag zuvor gut gegossen worden ist und dann in die Sonne gestellt wird, und einer, die kein Wasser bekommen hat. Ohne Freude verdorren wir.

Die Fähigkeit, unaufgeregt und ausgeglichen zu akzeptieren, was kommt

Gleichmut, die vierte unermessliche Denkweise, ist ebenfalls ein entscheidendes Element. Gleichmut heißt Ausgeglichenheit, die Fähigkeit, unaufgeregt zu akzeptieren, was kommt. Es ist nicht Gleichgültigkeit. Es beinhaltet keine Gefühllosigkeit, sondern bedeutet, sich nicht im Gefühl zu verlieren, im endlosen Dramatisieren und Geschichtenspinnen, das uns mit den Gefühlen verschmilzt, sondern stattdessen unsere Traurigkeit einfach als Traurigkeit zu sehen, ohne hinzugefügte Extras, unsere Wut einfach als Wut, sogar unser Glück und unseren Frieden einfach als Glück und Frieden, die ja alle von einem Moment zum nächsten entstehen und vergehen.

Rogers argumentierte ähnlich, als er schrieb, Empathie heiße, dass man die Welt des Klienten erlebe, als ob es die eigene wäre, dabei aber nie diese „Als-ob“-Qualität verliere. Ohne das „als ob“ verschmelzen wir mit unserem Erleben. Wir lassen uns davon einfangen, sind Inhalt statt Gefäß. Wenn unsere Liebe und Mitgefühl ohne Gleichmut sind, werden wir in unserer Arbeit leiden und letztendlich auch weniger bewirken.

Wir brauchen als Therapeuten ein klares, eindringliches Gefühl dafür, dass wir für unsere Klienten keine Entscheidungen treffen und auch die Tatsachen der natürlichen Welt nicht ändern können. Wir wissen, dass die Schwierigkeiten die Schwierigkeiten des Klienten sind und widerstehen der Versuchung, uns allzu sehr mit ihnen zu identifizieren. Genauso, wie wir wissen, wenn wir Achtsamkeit auf das Denken üben, dass unsere Gedanken einfach Gedanken sind, dass wir größer sind als unsere Gedanken, so lehrt uns Gleichmut, in das schmerzhafte Erleben unserer Klienten hineinzugehen, ohne uns zu verlieren oder überwältigt zu werden.

Dem anderen Menschen Raum und Freiheit lassen, auch eine schlechte Wahl zu treffen

In diesem Sinne ist es absolut entscheidend zu verstehen, dass Karuna nicht „compassion“ oder „Mitleid“ in dem Sinne ist, dass wir buchstäblich mit dem Klienten leiden. Vielleicht haben Sie es schon einmal erlebt, dass Sie ein persönliches Problem mit einem Freund besprochen haben, der sich zu sehr mit ihrem Kummer identifiziert, so dass er oder sie genauso bekümmert und aufgewühlt wird wie Sie selbst. Obwohl manche Menschen auf diese Art „Mitgefühl“ sogar stolz sind und meinen, sie zeige, dass sie auf heroische Weise sensibel seien für den Schmerz anderer Leute, ist sie doch nicht hilfreich.

Manche Buddhisten nennen das „idiotisches Mitgefühl“ – wie wenn man einem Diabetiker Eiscreme anbieten würde. Statt eines bekümmerten Menschen gibt es jetzt zwei. Aus solch einer Situation wird wahrscheinlich nichts Gutes erwachsen. Zwei Ertrinkende, die sich aneinander klammern, gehen beide unter. Was not tut, ist ein Mensch, der mit beiden Beinen auf festem Boden steht und dann dem Ertrinkenden eine Stange hinstrecken kann.

Diese vier Elemente funktionieren in gegenseitiger Abstimmung und nicht isoliert. Wenn in unserer Liebe und unserem Mitgefühl kein Gleichmut ist, sind sie vielleicht etwas anderes als Liebe und Mitgefühl. Vielleicht sind sie Manipulation. Vielleicht sind sie der Versuch, einen Vorrat an Gefälligkeiten anzulegen, von dem man später einmal zehren kann. Vielleicht sind sie der Versuch, Schuldgefühle zu erzeugen. Unsere Liebe und unser Mitgefühl sind nur dann Liebe und Mitgefühl, wenn sie dem anderen Menschen Raum und Freiheit lassen, auch die Freiheit, eine schlechte Wahl zu treffen. Liebe und Mitgefühl ohne Gleichmut haben eine unangenehme Eigenschaft, eine emotionale „Schmalzigkeit“, die einen misstrauisch macht, was wohl die wahren Motive des Helfers sein mögen.

Alles ist nichts anderes als genau das, was es ist

Ähnliche Wirkung hat es, wenn der eigenen Liebe und dem eigenen Mitgefühl die Freude fehlt. Wenn Sie sich nur in den Kummer von jemandem einfühlen können, ohne gleichzeitig seine Freuden zu würdigen, ist Ihr Mitgefühl vielleicht kein wahres Mitgefühl. Vielleicht geht es bei Ihrem Mitgefühl mehr darum, dass Sie sich gut fühlen, indem Sie jemandem eine Schulter zum Anlehnen geben und sich im Kontext der Not eines anderen als der Starke aufbauen. Ohne Freude kann es sein, dass Sie einen Menschen in noch tieferer Verzweiflung und Traurigkeit zurücklassen.

Die gegenseitige Verbindung zwischen Freude und Gleichmut kommt gut in dem Ausspruch des buddhistischen Lehrers Longchenpa zum Ausdruck: „Da alles nichts anderes ist als genau das, was es ist, könnte man genauso gut in Gelächter ausbrechen“. Die Wahrheit anzuerkennen und sie voll und ganz zu akzeptieren, einschließlich der Schwierigkeiten des Lebens, muss nicht zu Nihilismus oder Verzweiflung führen, sondern kann auch zu der Freude führen, die dann aufkommt, wenn wir aufhören, gegen die Natur der Dinge anzukämpfen.

Wenn Sie wirklich achtsam sind für einen anderen Menschen, enthält Ihre Achtsamkeit Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. Wenn irgendeines dieser Elemente fehlt, fehlen alle. Wenn irgendeines dieser Elemente fehlt, ist auch Achtsamkeit selbst nicht vorhanden.

Auf der Stelle praktizieren

Immer wenn wir auf Schwierigkeiten stoßen, wenn wir uns in einem schwierigen emotionalen Zustand wiederfinden, voller Traurigkeit, Wut oder Sorge sind, besteht die Versuchung, tiefer in uns hineinzufallen, uns isolierter und abgeschnittener zu fühlen. Es ist sehr hilfreich, stattdessen zu lernen, wie man genau in diesem Moment sein Herz für all die Menschen öffnet, die vor ähnlichen Schwierigkeiten stehen. Wenn Sie zum Beispiel krank sind und die Krankheit einen traurigen oder deprimierten Zustand erzeugt, können Sie sich vorstellen, wie Sie selbst Liebe und Mitgefühl für alle Wesen ausstrahlen, die krank sind. Wenn Sie frustriert sind, weil ein Klient Ihre geniale Interpretation nicht akzeptiert hat, können Sie sich öffnen für die Außenwelt und alle Menschen, die das Gefühl haben, ihre Mühe werde nicht gewürdigt. Ich habe festgestellt, dass diese einfache Übung oft sofort Erleichterung bringt.

Wir können diese Einstellungen in dem Moment kultivieren, wo wir einen Klienten begrüßen. Die traditionelle indische Begrüßung besteht aus einer Verbeugung und dem Wort „Namaste“, was soviel heißt wie „Ich erkenne das Göttliche in dir“. Aber wir können, ohne Verbeugung oder eine fremde Sprache, einfach innerlich sagen: „Lieber Freund“ und mit diesen Worten Ihr ganzes Gefühl für diesen Menschen, seine Geschichte, seine Kämpfe und seine positiven Qualitäten wachrufen. Alternativ können Sie ein- und ausatmen und sich selbst sagen: „Ich sehe dich. Ich bin hier. Ich sehe dich.“ Wenn ich das tue, habe ich nicht nur das Gefühl, dass der Klient für mich realer wird, sondern dass auch ich mehr da bin, präsenter bin. Solche Übungen helfen uns, uns daran zu erinnern, dass da nicht bloß ein „Klient“ ist, sondern ein menschliches Wesen wie wir, wie unterschiedlich unsere Rollen auch sein mögen.

Die Weisheit oder Buddha-Natur in diesem Menschen

Auch mitten in einer Sitzung kann man immer zum bewussten Atmen und zur Achtsamkeit zurückkehren oder an ein schlichtes Wort wie „Liebe“ oder „Güte“ denken. Oft geben wir uns so viel Mühe, als Therapeuten eine Hilfe zu sein, aber wir kämpfen zu viel, und das heißt per se fast schon, dass wir eben keine Hilfe sind. Manchmal fällt es uns so leicht zu sehen, wie der Mensch vor uns immer weiter Leiden schafft. Es ist wichtig, zu einem gewissen Gleichmut zurückzufinden und anzuerkennen, dass man die Natur der Realität nicht ändern und dem Klienten keine Entscheidungen abnehmen kann. Auch das kann man mit einem einfachen Wort oder Satz tun, etwa „Friede“ oder „Loslassen“, oder man kann, mehr buddhistisch formuliert, in sich das Vertrauen wieder wachrufen, dass die Weisheit oder Buddha-Natur in diesem Menschen letztendlich den Weg finden wird, auf dem es vorangeht.

Es ist hilfreich, zwischen den Sitzungen nicht zu viele Dinge unbedingt erledigen zu wollen. Es braucht nicht viel Zeit, um nach einer Sitzung zum Atem zurückzukehren, zu registrieren, wie die Sitzung auf unseren Körper und unser Bewusstsein gewirkt hat, und sie dann vielleicht loszulassen, damit wir für den nächsten Menschen in neuer Frische da sein können. Damit üben wir Freundlichkeit zu uns selbst sowie zum nächsten Klienten.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Achtsamkeit in der therapeutischen Beziehung.