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Wutanfall als Heilungsprozess

Wutanfall als Heilungsprozess: Wütendes Mädchen mit Zahnlücke
Naomi Aldort

Wutanfall als Heilungsprozess

Wie wir unser Kind mit Liebe begleiten können

Ein Kind, das einen Wutanfall bekommt, fühlt sich hilflos und braucht Autonomie und ein Gefühl der Würde. Es muss in der Lage sein, sein Leben selbst nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten. Wenn wir über das Kind bestimmen, können wir dadurch den Wutanfall auslösen. Manchmal ruft uns ein Wutanfall aber auch dazu auf, unsere Aufmerksamkeit einem bestimmten Problem zuzuwenden und manchmal muss das Kind einfach heftige Gefühle herauslassen, die etwas betreffen, was wir nicht ändern können. Dann braucht es nur unsere liebevolle Aufmerksamkeit. Wenn der Wutanfall Teil des Heilungsprozesses ist und wir das Kind beschwichtigen, oder ihm seine Wut auszureden versuchen, durchkreuzen wir die Heilung.

Würden Sie auf irgendwen anders als auf Ihr Herz hören?

Wenn Sie über Ihr Kind bestimmen und dadurch Wut bei ihm hervorrufen, führen Sie ein stummes Selbstgespräch und ergründen Sie in Ihrem Herzen, wer Sie für Ihr Kind sein wollen. Die liebevolle Mutter oder der liebevolle Vater, die oder der Sie sind, will Ihr Kind nicht kontrollieren und verärgern. Eine Stimme in Ihrem Inneren flüstert Ihnen unproduktive Worte oder Handlungen ins Ohr.

Was sind Ihre Gedanken? „Sie sollte vom Spielplatz weggehen, wenn ich ihr das sage...“ Wirklich? Würden Sie auf irgendwen anders als auf Ihr Herz hören, wenn Sie sich bestens amüsieren? Verlassen Sie sofort die Party, wenn Ihr Kind sich langweilt oder Ihr Partner Sie darum bittet? Sind diese Gedanken liebevoll und ehrlich? Im Grunde ist es Ihr eigener innerer Wutanfall, der durch Ihr Kind ausgedrückt wird.

Ihr Bedürfnis nach Kontrolle ist außer Kontrolle geraten, und vielleicht sind Sie hin- und hergerissen dazwischen, jemanden zu beeindrucken und auf Ihr Kind einzugehen. Fragen Sie sich: Wie würden Sie in denselben Situationen mit Ihrem Kind sein, wenn Sie diese Gedanken gar nicht hätten? Stellen Sie sich einfach vor, Sie wären frei von dem Geschwätz in Ihrem Inneren, und sehen Sie im Geiste vor sich, wie Sie Ihr Kind behandeln würden.

Kein Grund zu schreien

Wutanfälle müssen nicht zwangsläufig auftreten. Aber auch wenn Sie Ihr Baby liebevoll behandeln und eine bejahende Haltung zu ihm und später zu dem Weg, den das Kind geht, entwickeln, sind sie nicht immer unumgänglich. Halten Sie Ihr Baby ständig im Arm, so eignet es sich sanfte Kommunikationsfähigkeiten an. Tragetuch und Familienbett ermöglichen dem Baby oder Kleinkind, Signale zu senden, ohne zu weinen und ohne sich frustriert zu fühlen. Es wird dann dazwischen unterscheiden, friedlich um etwas zu bitten und zu weinen, um Gefühle auszudrücken. Später, wenn es sprechen lernt, wird es wahrscheinlich damit fortfahren und Worte und nicht Wutanfälle benutzen, um seine Bedürfnisse mitzuteilen.

Wenn ein Kind weiß, dass seine Eltern auf seine Worte reagieren, wie sie in seiner Babyzeit auf seine sanften Signale reagiert haben, hat es keinen Grund zu schreien, um auf sich aufmerksam zu machen; wenn ein solches Kind einen Wutanfall bekommt, hat es wahrscheinlich eher das Bedürfnis, dass Sie ihm einfach zuhören oder sich um etwas kümmern, was schief gelaufen ist.

Verwirrend kann es werden, wenn das Kind einen Wutanfall bekommt, weil seine sanfteren Kommunikationsversuche nicht den nötigen Kontakt zu Ihnen herbeigeführt haben. Deswegen brauchen Sie sich nicht schuldig oder als unzulängliche Eltern zu fühlen. Das passiert bei fast allen Kindern, trotz der besten Absichten ihrer Eltern, aufmerksam und liebevoll zu sein.

Gedanken erforschen, anstatt danach zu handeln

Falls Sie nervös werden, weil Ihr Kind wütend über etwas ist, was sich nicht ändern lässt, wollen Sie dem schreienden Kind vielleicht schnell irgendetwas geben, die Realität ändern, es irgendwie entschädigen oder sogar wider alle Logik handeln, nur damit der Wutanfall aufhört. Doch auf diese Weise hören Sie seine Botschaft nicht und durchkreuzen seinen Heilungsprozess. Durch eine solche Reaktion lernt das Kind mit der Zeit, Wutanfälle und Tränen nicht zur Selbstheilung einzusetzen, sondern um etwas zu bekommen. Doch man sollte niemandem die Schuld an diesem Missverständnis geben. Es ist Teil des Menschseins; Eltern und Kind sind beide in den Strategien ihres Inneren gefangen und tun ihr Bestes. Vielleicht haben die Eltern den Eindruck, ihr Kind würde sie „manipulieren“. Aber es reagiert lediglich auf die Signale, die ihm mit den besten Absichten gegeben wurden.

Um Panik zu vermeiden, wenn Ihr Kind einen Wutanfall wegen einer Situation bekommt, die sich nicht ändern lässt, führen Sie ein stummes Selbstgespräch; erforschen Sie Ihre Gedanken, statt Ihr Handeln davon diktieren zu lassen. Ihre Gedanken sind wahrscheinlich: „Ich muss ihn glücklich machen“, „Was ist mit ihm los?“„Ich bin eine so schlechte Mutter/ein so schlechter Vater“„Was mache ich nur falsch?“„O nein, das arme Kind, das ist ja furchtbar“„Wenn andere Leute ihn sehen, denken sie bestimmt, ich hätte keine Ahnung, wie man sich als Eltern verhalten sollte“ und so weiter. Schreiben Sie die Gedanken auf und sehen Sie sie auf dem Papier an.

Wenn Sie diese Gedanken für wahr halten, hat das zur Folge, dass Sie einen Kreuzzug gegen die Realität des Wutanfalls Ihres Kindes führen. Dabei ist im Grunde jede Verbindung zu Ihrem Kind und zu sich selbst unterbrochen. Wenn Sie diese Gedanken prüfen, stellen Sie fest, dass sie nichts mit der Wahrheit, der Realität oder mit Ihrem Kind zu tun haben. Es sind einfach Ängste, die Sie als Mensch geerbt haben. Ohne sie würde es Ihnen leicht fallen, Ihr Kind bedingungslos zu lieben und ihm Ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken.

Auf das wirkliche Bedürfnis eingehen

Wenn Sie Ihre Gedanken erforschen, machen Sie sich bewusst, dass sich Ihre Gedanken natürlicherweise um Sie selbst drehen, eben weil es Ihre Gedanken sind. Sie sind es, der denkt, etwas sei verkehrt oder furchtbar oder Ihr Image in den Augen anderer könne Schaden nehmen. Sie sind es, der den Wunsch hat, den Wutanfall um Ihrer selbst willen zu beenden, weil Sie diese Gedanken haben.

Wenn Sie tief in sich hineinschauen, wissen Sie nicht einmal, ob diese Gedanken für Sie wirklich wahr sind. Sie stellen sich automatisch ein. Wenn Sie irgendwie herausfinden könnten, wie Sie reagieren würden, wenn Ihnen diese Gedanken nicht in den Sinn kämen, könnte es sein, dass der Wutanfall Ihres Kindes vollkommen harmlos aussähe und Sie mit viel mehr Liebe reagieren würden und Ihrem Kind enger verbunden wären.

Ein Wutanfall ist eine wirksame Methode, um angestaute heftige Gefühle auszudrücken, und ist insofern ein Heilungsprozess. Dass Schreien oder Wüten dazu eingesetzt wird, um etwas Unerreichbares zu bekommen, lässt sich leicht vermeiden, indem wir unsere Reaktionen auf die friedlichen Signale des Kindes einstellen und Zwang vermeiden. Wenn heilende Wutanfälle auftreten, jedoch durch Entschädigungen gestoppt werden, bleibt das Problem ungelöst, weil auf das wirkliche Bedürfnis nicht eingegangen wurde.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Von der Erziehung zur Einfühlung.

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