Direkt zum Inhalt

Vollkommene Liebe, unvollkommene Beziehungen

Vollkommene Liebe, unvollkommene Beziehungen: Sonnenstrahlen hinter Quellwolken
John Wellwood

Vollkommene Liebe, unvollkommene Beziehungen

Die Schönheit und das Biest in uns

Die Worte „ICH LIEBE DICH“ die wir in Augenblicken wirklicher Wertschätzung, wahren Staunens oder echter Zuneigung sprechen, kommen von etwas vollkommen Reinem in uns – von der Fähigkeit, uns zu öffnen und ohne Vorbehalt „Ja” zu sagen. Solche Momente eines reinen, offenen Herzens bringen uns so nahe an eine natürliche Vollkommenheit heran, wie es in diesem Leben nur möglich ist. Das warme, strahlende Ja des Herzens ist vollkommen wie die Sonne, indem es alles zum Leben bringt und alles wahrhaft Menschliche nährt.

Doch in uns ist auch ein Biest verborgen – unsere Verletzlichkeit Wut, Angst, Arroganz, Hass und Unsicherheit. Wie ist das mit unsere Natur der wahren Schönheit und Liebe vereinbar? Und wie können wir trotz diesem Gegensatz in uns Beziehungen führen?

Merkwürdigerweise ist es, obwohl wir für kurze Momente eine reine, strahlende Liebe im menschlichen Herzen erblicken, dennoch schwer, sie in der Welt um uns herum voll verwirklicht zu finden, insbesondere da, wo es am wichtigsten ist – in unseren Beziehungen zu anderen Menschen. Kratzen Sie nur an der Oberfläche unserer Kultur, die verrückt ist nach Sex und Romantik, und Sie werden bei vielen Menschen auf eine Desillusionierung stoßen, bei der sie, wie es in einem Popsong heißt, das Gefühl haben, dass „Liebe stinkt“. Oder wie es eine junge Frau in einem meiner Workshops ausdrückte: „Wenn die Liebe so etwas Großartiges ist, wieso sind dann Beziehungen so unmöglich?“

Absolute Liebe hat viele Gesichter

Wenn die reine Essenz der Liebe wie die Sonne an einem wolkenlosen Himmel ist, scheint dieses klare, brillante Licht am stärksten durch Beziehungen, wenn sie anfangen und wenn sie enden. Wenn Ihr Kind gerade auf die Welt gekommen ist, fühlen Sie sich durch die Ankunft solch eines anbetungswürdigen Wesens so begnadet, dass Sie ohne Zurückhaltung, Forderungen oder Urteile total darauf eingehen. Oder wenn Sie sich das erste Mal verlieben, sind Sie so überrascht und entzückt von der bloßen Schönheit der Gegenwart dieser Person, dass es Ihr Herz weit aufsprengt.

Eine Zeit lang bricht das strahlende Sonnenlicht allumfassender Liebe in voller Stärke durch, und Sie schmelzen vielleicht vor Glückseligkeit dahin. Ähnlich ist es, wenn ein Freund oder ein geliebter Mensch stirbt: Dann fallen all Ihre kleinen Streitigkeiten mit dieser Person weg. Sie schätzen den anderen einfach dafür, was er ist, einfach nur dafür, dass er für eine kurze Zeit mit Ihnen zusammen hier auf dieser Welt gewesen ist. Reine, bedingungslose Liebe scheint durch, wenn die Menschen sich selbst – ihre eigenen Forderungen und Pläne  – beiseite stellen und sich einander ganz öffnen.

Absolute Liebe ist nichts, was wir zusammenbasteln oder fabrizieren müssen – bzw. überhaupt können. Es ist das, was auf natürliche Weise durch uns hindurchfließt, wenn wir uns  ganz öffnen. In der Beziehung zu einem anderen zeigt sie sich als selbstlose Aufmerksamkeit, in der Beziehung zu uns selbst als innere Zuversicht und Selbstannahme, die uns von innen her erwärmt und in der Beziehung zum Leben als ein Gefühl des Wohlbefindens, der Dankbarkeit und der Lebensfreude.

Die Liebe des Seins

Wenn wir diese Offenheit und Wärme seitens eines anderen erleben, nährt uns dies ganz wesentlich: Es hilft uns, unsere eigene Wärme und Offenheit zu erfahren, und erlaubt uns, die Schönheit und das Gute im Kern unseres eigenen Wesens zu erkennen. Das Licht bedingungsloser Liebe weckt die schlafenden, als Samen vorhandenen Potentiale der Seele, hilft ihnen zu reifen, zu erblühen und Früchte zu tragen, und lässt uns die einzigartigen Gaben hervorbringen, die wir als unsere ureigensten in diesem Leben anbieten können. Wenn wir reine Liebe, Anteilnahme und Anerkennung von einem anderen Menschen bekommen, ist das von großem Segen für uns: Es bestätigt uns als das, was wir sind, und macht es uns möglich, ja zu uns selbst zu sagen.

Was uns am stärksten bestätigt, besteht nicht nur in dem Gefühl, geliebt zu sein, sondern so geliebt zu sein, wie wir sind – in unserem tiefsten Sein. Unser Sein ist, tiefer als all unsere Persönlichkeitszüge, als unser Schmerz oder unsere Verwirrung, die dynamische, offene Gegenwart, die wir von unserem Wesen her sind. Es ist das, was wir erleben, wenn wir uns ruhig, geerdet und in Kontakt mit uns selbst fühlen. Wenn wir in diesem grundlegenden Boden der Präsenz verwurzelt sind, fließt die Liebe frei durch uns hindurch und wir können uns anderen bereitwilliger öffnen. Wenn sich zwei Menschen mit dieser Qualität offener Präsenz begegnen, teilen sie einen vollkommenen Augenblick absoluter Liebe miteinander.

Absolute Liebe findet ein Zuhause in uns

Die Persönlichkeit des Menschen – das ist ein entscheidender Punkt – ist nicht die Quelle der absoluten Liebe. Deren Licht scheint vielmehr durch uns hindurch, von dem kommend, was gänzlich jenseits von uns liegt, von der letztendlichen Quelle alles Seienden. Wir sind die Kanäle, durch die dieses Strahlen fließt. Wenn es durch uns hindurchfließt, findet es aber auch ein Zuhause in uns und lässt sich als unsere Herzensessenz in uns nieder.

Wenn der Wert und die Schönheit unseres Daseins erkannt werden, können wir uns entspannen, loslassen und in uns selbst ankommen. Wenn wir uns entspannen, öffnen wir uns. Und dieses Uns-Öffnen macht uns durchlässig für das Leben, das durch uns hindurchfließt wie eine frische Brise, die in einen Raum hineinweht, sobald die Fenster geöffnet werden.

Indem sie uns hilft, uns mit der strahlenden Lebendigkeit in uns zu verbinden, enthüllt sie unsere grundlegende Schönheit und Kraft, in denen wir eins mit dem Leben selbst sind, weil wir vollkommen durchlässig für das Leben sind. Wenn das Leben zu einem gehört und man selbst zum Leben, befreit einen das von Hunger und Angst. Man erlebt die grundlegende Würde und das Edle unserer Existenz, die nicht von der Anerkennung und Bestätigung durch irgendjemand anderen abhängen. In dieser tiefen Wahrnehmung der Einheit mit dem Leben erkennt man, dass man nicht verwundet ist, nie verwundet gewesen ist und nicht verwundet werden kann. Das ist die Quintessenz der menschlichen Existenz: Die absolute Liebe hilft uns, uns mit dem zu verbinden, was wir wirklich sind. Deshalb ist sie unverzichtbar.

Relative Liebe

Obwohl das menschliche Herz ein Kanal ist, durch den große Liebe in diese Welt strömt, ist dieser Herzenskanal gewöhnlich zugeschüttet – mit Angst- und Abwehrmustern, die sich entwickelt haben, weil wir nicht wissen, dass wir wirklich geliebt sind. Infolgedessen durchdringt die natürliche Offenheit der Liebe, von der wir in kurzen, beglückenden Momenten einer reinen Verbindung mit einem anderen Menschen einen Geschmack bekommen können, unsere Beziehungen nur selten zur Gänze.

In der Tat ist es so, dass, je mehr sich zwei Menschen einander öffnen, diese weite Öffnung auch alle Blockaden um so mehr an die Oberfläche bringt: ihre tiefsten, dunkelsten Wunden, ihre Verzweiflung und ihr Misstrauen, und ihre empfindlichsten emotionalen Reizpunkte. So wie die Wärme der Sonne bewirkt, dass Wolken aufsteigen, indem sie die Erde dazu bringt, ihre Feuchtigkeit abzugeben, aktiviert die reine Offenheit der Liebe die dicken Wolken unserer emotionalen Verletzungen, die verdichteten Stellen, an denen wir uns verschlossen haben, wo wir in Angst leben und uns der Liebe widersetzen.

Relativ bedeutet abhängig von der Zeit und den Umständen

Wie ein teilweise bewölkter Himmel ist die relative Liebe unvollständig, unbeständig und unvollkommen. Sie ist ein ständiges Spiel von Licht und Schatten. Das ganze Strahlen der absoluten Liebe kann nur in flüchtigen Momenten durchblitzen.

Wenn Sie sich in Beziehungen genau beobachten, werden Sie sehen, dass Sie sich ständig hin- und herbewegen zwischen Offen- und Verschlossenheit, klarem Himmel und dunklen Wolken. Wenn ein anderer Mensch auf Sie eingeht, Ihnen gut zuhört oder etwas Angenehmes sagt, beginnt etwas in Ihnen sich ganz von selbst zu öffnen. Wenn aber der andere nicht auf Sie eingeht, Sie nicht hört oder etwas Bedrohliches sagt, werden Sie vielleicht schnell angespannt und fangen an, sich zu verschließen.

Unsere Fähigkeit, zu einem anderen Menschen aus ganzem Herzen Ja zu sagen, schwankt mit den veränderlichen Umständen in jedem Moment. Sie hängt davon ab, wie weit wir beide dazu fähig sind, zu geben und zu nehmen, von der Chemie zwischen uns, von unseren Grenzen und unseren konditionierten Mustern, davon, wie weit wir in unserer persönlichen Entwicklung sind, wie viel Bewusstheit und Flexibilität wir besitzen, wie gut wir uns verständigen, von der Situation, in der wir uns befinden, und sogar davon, wie gut wir in der vorausgegangenen Nacht geschlafen haben.

Liebe als stabiler Zustand?

Gewöhnliche menschliche Liebe ist immer relativ, nie gleichbleibend absolut. Relative Liebe befindet sich wie das Wetter in einem ständigen dynamischen Fluss. Sie kommt auf und flaut wieder ab, nimmt zu und ab, verändert ihre Form und Intensität ständig.

Der Hase liegt aber dann im Pfeffer, wenn wir denken, dass andere eine Quelle der perfekten Liebe sein sollten, indem sie uns beständig auf genau die richtige Weise lieben. Beziehungen schwingen ständig hin und her, indem zwei Menschen einen gemeinsamen Boden finden und dieser Boden erneut unter ihnen weggleitet, wenn ihre Unterschiedlichkeit sie wieder in verschiedene Richtungen zieht. Während sie versuchen, sich im gegenwärtigen Moment zu begegnen, werden sie von wechselnden Strömungen von Erinnerungen, Erwartungen und Wunden aus der Vergangenheit hin und her geschleudert. Diese ständige Spannung zwischen Einssein und Zweisein, Zusammensein und Getrenntsein, Augenblicken von frischen Entdeckungen und alten Assoziationen macht die relative Liebe unvermeidlich unbeständig und instabil.

Das ist aber nur ein Problem, wenn wir etwas anderes erwarten, wenn wir erwarten, dass sich die Liebe als ein stabiler Zustand zeigt. Diese Art von Erwartung verhindert, dass wir das besondere Geschenk wertschätzen, das die relative Liebe zu bieten hat: die persönliche Nähe. Nähe kann nur stattfinden, wenn mein Partner und ich uns als zwei verschiedene Menschen begegnen, wenn ich es wertschätzen kann, dass er ein ganz anderer ist und dennoch gleichzeitig nicht vollkommen anders als ich.

Vollkommene Liebe in unvollkommenen Situationen suchen

Wenn wir uns unser Leben ehrlich anschauen, werden wir höchstwahrscheinlich sehen, dass nie jemand total verlässlich und kontinuierlich für uns da gewesen ist. Obwohl wir uns vielleicht gerne vorstellen würden, dass irgendjemand irgendwo eine ideale Beziehung hat – vielleicht Filmstars oder spirituelle Menschen –, sind das meistens nur Fantasien. Wenn wir genauer hinsehen, können wir erkennen, dass jeder seine eigenen Ängste, blinden Flecken, versteckten Pläne, Unsicherheiten, aggressiven und manipulativen Tendenzen und emotionalen Reizpunkte hat , die die Kanäle blockieren, durch die große Liebe frei fließen kann.

Dennoch hat auch unsere Sehnsucht nach vollkommener Liebe und vollkommener Einigkeit ihren Platz und ihre eigene Schönheit. Wir sehnen uns danach, unsere Getrenntheit vom Leben, von Gott und von unserem eigenen Herzen zu heilen. Wenn wir diese Sehnsucht richtig verstehen, kann sie uns dazu inspirieren, über uns selbst hinauszugehen, uns mit ganzem Herzen zu geben oder uns dem geistigen Leben zuzuwenden. Wie wir sehen werden, ist sie ein Schlüssel zu der Tür, durch die die absolute Liebe ganz in uns hineinströmen kann.

Wir bekommen jedoch unvermeidlich Probleme, wenn wir diese Sehnsucht auf eine andere Person richten. Das ist der Grund, weshalb es wichtig ist, zwischen absoluter und relativer Liebe zu unterscheiden. Obwohl intime Verbindungen überwältigende Augenblicke absoluten Einsseins bieten können, können wir uns einfach nicht darauf verlassen, dass sie das tun werden. Die einzige verlässliche Quelle vollkommener Liebe ist das, was vollkommen ist – das offene, wache Herz im Kern des Seins. Wenn wir das von Beziehungen erwarten, führt das nur dazu, dass wir uns betrogen, entmutigt oder verletzt fühlen.

Der Ursprung der Wunde

In den ersten Monaten unseres Lebens haben uns unsere Eltern höchstwahrscheinlich das größte Maß an bedingungsloser Liebe und Hingabe geschenkt, das sie uns geben konnten. Als Babys waren wir so entzückend, dass sie sich wahrscheinlich begnadet gefühlt haben, dass solch ein kostbares, schönes Wesen in ihr Leben gekommen ist. Wenn wir das Glück hatten, eine Mutter zu haben, die für uns sorgen konnte, dann haben wir wahrscheinlich zu Beginn ein paar Mal erlebt, dass wir uns im reinen, ungetrübten Sonnenschein der Liebe sonnen konnten.

Dies erzeugt aber auch eine der grundlegendsten aller menschlichen Illusionen, nämlich dass die Quelle von Glück und Wohlbefinden außerhalb von uns selbst läge, im Akzeptiertwerden, im Wohlwollen und der Fürsorge von anderen Menschen. Doch selbst wenn uns unsere Eltern auf der tiefsten Ebene bedingungslos geliebt haben, konnten sie dies aufgrund ihrer menschlichen Beschränkungen nicht ständig ausdrücken. Das war nicht ihre Schuld. Es bedeutet nicht, dass sie schlechte Eltern oder schlechte Menschen gewesen sind. Wie jeder hatten auch sie Ängste, Sorgen, Anliegen und Bürden sowie ihre eigene Verletztheit in Bezug auf die Liebe. Wie wir alle waren sie unvollkommene Gefäße für die vollkommene Liebe.

Ein Schmerz, der unser Dasein auffrisst

Wenn Kinder Liebe aber als bedingt, nicht verlässlich oder manipulativ erleben, erzeugt das einen Knoten von Angst in ihrem Herzen. Dieses grundlegende Liebestrauma ist in der psychotherapeutischen Fachsprache als „narzisstische Verletzung“ bekannt, weil es unser Identitäts- und Selbstwertgefühl beeinträchtigt. Es wirkt sich auf unser ganzes Selbstverständnis aus, indem es uns daran zweifeln lässt, ob wir vom Wesen her liebenswert seien. Emily Dickinson beschreibt diese universelle Wunde in einem ihrer Gedichte folgendermaßen: „Es gibt einen solch extremen Schmerz, dass er das Dasein auffrisst.“

Diese Verwundung tut so weh, dass Kinder sie aus dem Bewusstsein zu verdrängen versuchen. Was die Wunde nicht heilen lässt, ist nicht zu wissen, dass wir so wie wir sind, schön und liebenswert sind, sondern dass wir denken, dass andere Menschen den Schlüssel hierzu besitzen würden. Wir hätten gerne und erwarten es oft, dass die relative menschliche Liebe absolut sein und einen verlässlichen, steten Fluss von Harmonie, bedingungslosem Annehmen und Verstehen bieten soll. Wenn das nicht der Fall ist, nehmen wir es persönlich und betrachten es als die Schuld von jemandem  – von uns selbst, weil wir nicht gut genug seien, oder von anderen, weil sie uns nicht genug liebten. Aber es ist einfach nur ein Zeichen für die ganz gewöhnliche menschliche Beschränktheit, und nichts weiter. Andere Menschen können uns nicht reiner lieben, als es ihre Charakterstruktur erlaubt.

Den eigenen Mangel an Liebe spüren

Die Probleme in Beziehungen fangen an, wenn wir meinen, dass die in unserem Herzen entfachte Wärme nicht wirklich unsere eigene sei, sondern dass sie von der anderen Person auf uns übertragen werde. Dann hängen wir wie besessen am anderen als demjenigen, der uns mit Liebe versorgt, während die Wärme, die wir fühlen, in Wahrheit vom Sonnenschein der großen Liebe kommt, der in unser Herz hineinstrahlt.

D.H. Lawrence schreibt: „Diejenigen, die sich auf die Suche nach Liebe machen, finden nur ihren eigenen Mangel an Liebe.“

Hier ist ein einfacher Weg, wie sie selbst erfahren können, was Lawrence meint:

Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf jemanden, von dem sie sich wünschten, dass er sie mehr liebte, und beobachten Sie, wie es sich anfühlt, das zu wollen. Wenn Sie es sorgfältig beobachten, werden Sie feststellen, dass das Suchen nach Liebe bei einem anderen eine gewisse Anspannung oder eine Stauung in Ihrem Körper erzeugt, die in der Brust am deutlichsten zu spüren ist. Es schnürt das Herz ein. Und als Folge davon fühlen Sie Ihren eigenen Mangel an Liebe.

Solange wir uns auf das konzentrieren, was uns unsere Eltern nicht gegeben haben, darauf, dass uns unsere Freunde nicht dauernd zur Verfügung stehen, oder auf die Dinge, in denen uns unser Liebespartner nicht versteht, werden wir uns nie in uns selbst verwurzeln und die Wunde des Herzens heilen.

Ein Gewebe aus Vollkommenheit und Unvollkommenheit

Wenn ich betone, wie wichtig es ist, vollkommene Liebe nicht bei anderen zu suchen, sage ich nicht, dass Sie sich von Beziehungen abwenden oder deren Bedeutung herabsetzen sollen.

Im Gegenteil: Je weniger Sie die totale Erfüllung von einer Beziehung fordern, um so mehr können Sie diese als den wunderschönen Teppich wertschätzen, der sie ist – ein Gewebe, in dem das Absolute und das Relative, das Vollkommene und das Unvollkommene, das Grenzenlose und das Begrenzte auf wunderbare Weise miteinander verwoben sind. Sie können aufhören, gegen die wechselnden Gezeiten der relativen Liebe anzukämpfen, und stattdessen auf ihren Wellen zu reiten lernen. Und Sie werden den schlichten, ganz gewöhnlichen Heldenmut mehr wertschätzen, der nötig ist, wenn man sich einem anderen Menschen öffnet und wahre Nähe herstellt.

Die Schönheit und das Biest annehmen

Als Kind des Himmels und der Erde sind Sie eine Mischung aus unendlicher Offenheit und endlicher Beschränktheit. Das bedeutet, dass Sie zur gleichen Zeit sowohl wunderbar als auch schwierig sind. Sie haben Fehler, Sie stecken in alten Mustern fest, Sie werden von sich selbst fortgerissen. In der Tat sind Sie in vielerlei Hinsicht ziemlich unmöglich. Und dennoch sind Sie über alle Maßen schön. Denn Ihr innerster Kern besteht aus Liebe, dieser kraftvollen Mischung aus Offenheit, Wärme und klarer, transparenter Präsenz. Der grenzenlosen Liebe gelingt es immer irgendwie, durch Ihre beschränkte äußere Form hindurchzublitzen.

Wenn Sie erkennen, dass die absolute Schönheit in Ihnen nicht von Ihren Fehlern beschmutzt werden kann, dann kann diese Schönheit, die Sie sind, anfangen, sich des Biestes anzunehmen, das Sie manchmal zu sein scheinen. Dann beginnen Sie zu entdecken, dass das Biest und die Schönheit Hand in Hand gehen. Das Biest ist in Wirklichkeit nichts anderes als Ihre verwundete Schönheit. Es ist die Schönheit, die den Glauben an sich selbst verloren hat, weil sie nie ganz erkannt worden ist. Das mangelnde Vertrauen, dass man geliebt oder liebenswert ist, hat die scheußlichsten emotionalen Reaktionen aufkommen lassen – Wut, Arroganz, Hass, Eifersucht, Gemeinheit, Depression, Unsicherheit, gierige Anhaftung, Angst vor Verlust und Verlassenwerden.

Der erste Schritt, das Biest von seiner Last zu befreien, besteht darin, die Verhärtung um unser Herz herum anzuerkennen. Wenn wir dann hinter diese Barriere blicken, sehen wir vielleicht die verwundete, abgeschnittene Stelle in uns, wo die Stimmung von mangelnder Liebe wohnt. Wenn wir sanft und ohne Urteil oder Ablehnung mit dieser Stelle umgehen können, werden wir die große Zartheit im innersten Kern unserer Menschlichkeit aufdecken.

Die gesamte Schöpfung in strahlende Wärme gehüllt

Eine Ehe zwischen unserer Schönheit und unserem verletzten Biest ist letztlich die Liebe, nach der wir uns am meisten sehnen. Als irdische Geschöpfe, die ständig relativen Enttäuschungen, Schmerz und Verlust ausgesetzt sind, können wir nicht anders, als uns verletzlich zu fühlen. Als ein offener Kanal aber, durch den große Liebe in diese Welt fließt, ist das menschliche Herz unbesiegbar. Ganz und authentisch menschlich zu sein bedeutet, in beiden Dimensionen fest verwurzelt zu sein und die Tatsache zu feiern, dass wir zur gleichen Zeit sowohl verletzlich als auch unzerstörbar sind.

An dieser Kreuzung, wo sich Ja und Nein, grenzenlose Liebe und menschliche Beschränktheit überschneiden, entdecken wir die grundlegende menschliche Bestimmung: die Sonne in unserem Herzen immer mehr aufzudecken, so dass sie uns selbst als Ganzes und die gesamte Schöpfung in die Sphäre ihrer strahlenden Wärme hüllen kann.

 

Dieser Artikel stammt aus dem Buch Vollkommene Liebe.

Weiteres Material
Eros, Sex und die Regeneration der Welt

Normalerweise agiert man seine konditionierten Muster unbewusst aus. Aber in einer Liebesbeziehung hat man die Chance zu fühlen, wie es ist, ein Kontrollfreak zu sein, und zu sehen, wie man damit die Offenheit für die Liebe, das Sonnenlicht abschneidet, das einem helfen wird, sich zu einem echten Menschen zu entwickeln.

Bücher des Autors
Weitere Empfehlungen